18.05.2015 Deutschland DEU Hamburg - Fraktion Die Linke in der Hamburgischen BŸrgerschaft - Cansu …zdemir [ copyright (c) Karin Desmarowitz ,
Karin Desmarowitz

Nach G20: „Verantwortung heißt, sich den
Fragen zu stellen, Herr Scholz!“

In der Bürgerschaftsdebatte über den G20-Gipfel hat die DIE LINKE am Mittwoch ihren Standpunkt klargemacht: „Wir brauchen eine nüchterne Analyse, keine Schnellschüsse, keine Scharfmacherei“, sagte Cansu Özdemir. Denn offene Fragen und Ungereimtheiten gibt es viele, wie die Co-Fraktionsvorsitzende in ihrer Rede verdeutlichte: „Verantwortung heißt, sich den Fragen zu stellen, Herr Scholz. Wir fordern einen Parlamentarischen Untersuchungsausschuss!“

Sehr geehrte Frau Präsidentin, meine Damen und Herren,

die zerstörerische Gewalt der Randalierer macht uns fassungslos. Das Gefährden von Menschenleben von Polizist*innen, Anwohner*innen, Sanitäter*innen und Journalist*innen, das Zerstören, das Plündern haben nichts mit dem Ziel einer besseren, einer solidarischen Welt zu tun. Es sind Straftaten, die verfolgt werden müssen.

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Die Ereignisse in der Schanze und den anderen Wohngebieten müssen gründlich und vernünftig aufgearbeitet werden. Dazu gehört eine nüchterne Analyse der Ereignisse und keine Schnellschüsse, keine politische Scharfmacherei. Es gibt deutliche Hinweise auf eine heterogene Zusammensetzung der Randalierer. Zum Teil Unpolitische, zum Teil Randaleorientierte, meist männliche junge Menschen, manche eingereist aus dem Ausland, manche aus Deutschland. Ich habe auch Personen gesehen, die ich eher dem salafistischen Spektrum zuordnen würde, andere wiederum haben auch Neonazis beobachten können.

Wie waren diese Gruppen zusammengesetzt? Wieso konnte diese Dynamik der Massengewalt stundenlang nicht verhindert werden? Während Herr Scholz, Herr Grote und Herr Dudde eine andere Version erzählen, berichtet Jan Reinecke vom Bund Deutscher Kriminalbeamter am Sonntag bei Anne Will, dass der Schutz der Gipfelteilnehmer*innen oberste Priorität hatte. Dies äußerte auch Ralf Martin Meyer.

Der Hausverwalter vom Gebäude am Schulterblatt 1 habe den Schlüssel am 5. Juli der Polizei übergeben, Herr Dudde aber sagte: „Dächer gehören zu Privatgebäuden. Da hätten wir nichts machen können.“ Ungereimtheiten und Fragen, die ehrlich und transparent aufgeklärt und beantwortet werden müssen.

Die Bilder von Freitag erschrecken uns, beeinflussen uns, aber sie dürfen nicht unhinterfragt unser politisches Handeln bestimmen. Wir stehen für Differenzierung. Wir müssen aber nicht nur die Geschehnisse von Freitagnacht aufarbeiten, sondern auch die Ereignisse von Anfang an. Von der Entscheidung, den Gipfel in Hamburg zu veranstalten bis hin zu den Ereignissen zwischen Sonntag, dem 2. Juli und Sonntag, den 9. Juli. Die Idee, den G20-Gipfel nach Hamburg zu holen, hat sich vollständig als Wahnsinnsidee erwiesen. Wir haben von Anfang an gesagt, dass diese Entscheidung fahrlässig ist und eine Reihe von Problemen, die gelöst werden mussten, gar nicht gelöst werden konnten. Viele haben vor den unlösbaren Problemen gewarnt, die der Bürgermeister ignoriert hat.

Die politische Verantwortung wurde auf die Polizei übertragen und Hartmut Dudde als Gesamteinsatzleiter zurückgeholt. Dudde, bekannt als Hardliner, der einen fragwürdigen Umgang mit dem rechtsstaatlichen Prinzip der Verhältnismäßigkeit hat. In einem Leserbrief in der SZ von vor zwei Tagen, meldet sich der ehemalige Ausbilder von Hartmut Dudde zu Wort. Er habe ihn im Verfassungs- und Versammlungsrecht ausgebildet und ist überrascht, wie wenig von der Theorie bei Dudde hängen geblieben ist und bezeichnet den Umgang mit dem Versammlungsrecht für unprofessionell.

Mit der Entscheidung, Dudde einzusetzen, hat sich Olaf Scholz für einen Eskalationskurs entschieden.  Und es kam wie es kam unter Duddes Null-Toleranzlinie: Gespräche mit Veranstalter*innen wurden auf polizeilicher und selbst in den konfrontativsten Situationen, nicht auf politischer Ebene geführt. Sie wurden systematisch verweigert. Und wenn sie auf polizeilicher Ebene geführt wurden, dann konfrontativ und nicht deeskalativ und lösungsorientiert.

Es gab eine grundsätzliche Verweigerung der Kooperation. Stattdessen wurden Gruppen von Anfang an dämonisiert, es wurden systematisch Feindbilder aufgebaut.

Es wurde trotz Ankündigung des Justizsenators, eine Demoverbotszone werde es nicht geben, eine Allgemeinverfügung von 38 Quadratkilometern verhängt. Camps wurden nicht genehmigt,  Proteste wurden  diffamiert und unüberprüfbare Gefahrenprognosen als Tatsachen verbreitet, die von den Gerichten zu dem Zeitpunkt in keiner Weise überprüfbar waren.

Die schwere Beschädigung von Grundrechten im Zeichen der „Sicherheit“, von der Versammlungsfreiheit über die Pressefreiheit bis zum Recht auf anwaltliche Vertretung. Und wir müssen reden, Herr Scholz, über das Verständnis dieser rot-grünen Koalition von Gewaltenteilung.  Die Gerichte für die Eskalation verantwortlich zu machen, die Judikative anzugreifen als Bürgermeister dieser Stadt, zeugt von einem sehr fragwürdigen und einem sehr gefährlichen Demokratie- und Rechtsstaatsverständnis. Und nicht nur Sie betreiben Richterschelte. Auch der Schulsenator  Ties Rabe setzt die Richter*innen via Twitter unter Druck! Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen, die Spitze der Exekutive setzt die Judikative auf eine unglaubliche Weise unter Druck!

Damit nicht genug: Staatsrat Christoph Holstein setzt Journalist*innen der MoPo auf Facebook unter Druck! Alle sind Schuld, aber nicht die rot-grüne Regierung. Die Gerichte, die Presse, die Linken. Sie haben von Anfang an auf Konfrontation und Eskalation gesetzt, um jegliche Kritik und jeglichen Protest kleinzuhalten und am besten gleich fernzuhalten.

Schon am 2. Juli haben Sie in Entenwerder in Kauf genommen, dass die Polizei sich über die Judikative hinwegsetzt. Das Camp stand zum Zeitpunkt des von Dudde befohlenen Einsatzes unter dem Schutz der Versammlungsfreiheit. Versammlungsfreiheit ist kein Gnadenrecht, es ist ein Grundrecht. Den Campteilnehmer*innen Terror vorzuwerfen, ohne jeglichen Beweis dafür zu haben, zeigt auch, wie verzweifelt Sie nach Argumenten suchen, um Duddes Rechtsbrüche zu rechtfertigen.

Am 6. Juli auf der Demonstration „Welcome to hell“, haben Sie, Herr Scholz, und Sie, Herr Grote, mit der Null-Toleranzstrategie ihres Einsatzleiters Herrn Dudde mindestens Schwerverletzte billigend in Kauf genommen. Es wurde eine Massenpanik ausgelöst, selbst flüchtende Menschen wurden attackiert. Es gab rechts und links keine Fluchtwege, hinten und vorne stand die Polizei. Es war eine schreckliche, eine extrem gefährliche Situation, die uns stark an die Loveparade in Duisburg erinnert hat.

Auch Anwält*innen hatten es in diesen Tagen schwer. Sie wurden diskreditiert, gewaltsam von Justizbeamten aus den Gerichtsälen entfernt. Es hat eine massive Verletzung des Gebots der Unverzüglichkeit gegeben. Die Zustände in der GeSa eine Katastrophe. Auch Journalist*innen, auch Sanitäter*innen wurden angegriffen, wurden bei ihrer Arbeit behindert.

Polizist*innen wurden nach ihren eigenen Aussagen von der Politik verheizt, sie fühlten sich „wie eine Nummer für Dudde“, der sich keiner Schuld bewusst ist. Uns erzählten Beamte, dass sie nur 90 Min. geschlafen hätten. Und, Herr Scholz, sie verlangen keinen Dank, sondern eine Entschuldigung. Die Polizei war mental überhaupt nicht vorbereitet auf diesen Einsatz.

Alle Fraktionen, außer DIE LINKE haben das Sicherheitskonzept des rot-grünen Senats ohne jegliche Kritik mitgetragen. Und jetzt, wo es schief gelaufen ist, fängt die Suche nach dem Sündenbock an. Wie heißt ein Sprichtwort: „Der Erfolg hat viele Väter, der Misserfolg ist ein Waisenkind.“ Herr Scholz, Herr Tjarks, Herr Dressel, wir haben von Anfang an gesagt, Hamburg ist nicht der geeignete Standort. Wir haben von Anfang an Deeskalation statt Eskalation gefordert.

Die Naivität, der eiskalte Egotrip des Bürgermeisters hat viele Scherben hinterlassen in dieser Stadt. Statt selbstkritisch zu sein, auch Fehler einzugestehen, wälzt er die Verantwortung von sich ab und strahlt weiterhin wie ein Sonnenkönig in die Kameras. Null Empathie, Null Verantwortung, Null Selbstkritik. Verantwortung heißt, sich den Fragen zu stellen. Die Geschehnisse, das Versagen transparent aufzuarbeiten.

Der von rot-grün beantragte Sonderausschuss soll sich auf die gewalttätigen Auseinandersetzungen konzentrieren. Das greift aber viel zu kurz. Die gewalttätigen Auseinandersetzungen müssen natürlich ein Teil sein. Aber, aus unserer Sicht muss der ganze Komplex unter die Lupe genommen werden. Von der Entscheidung, den Gipfel mitten in Hamburg abzuhalten, über das Einsatzkonzept der Polizei, die Einschränkungen der Grundrechte bis hin zu den Beeinträchtigungen für die Bürger*innen. Ein Sonderausschuss hat keine Befugnisse, wir brauchen aber Befugnisse, um die gesamten Geschehnisse aufzuklären. Und deshalb ist ein Parlamentarischer Untersuchungsausschuss das richtige Instrument, wenn Sie wirklich das Interesse haben, alle Aspekte die man nicht voneinander unabhängig behandeln kann, aufzuklären.

Vor allem die Grünen sind hier in der Pflicht. Sie waren einst die Partei der Bürger*innenrechte und tragen mittlerweile schwere Grundrechtsverletzungen mit, ohne wenn und aber. Sie, Herr Tjarks, Sie Frau Fegebank, können nicht, nachdem sie alles mitgetragen haben, so tun, als wären sie nicht in der Verantwortung.

 

Foto: Karin Desmarowitz