Kevin Hackert

von Heike Sudmann

30040106683_c76c1b4d68_o-300x200 Kostenfreier Nahverkehr für bessere Luft in den Städten? Eine tolle Idee – es ist höchste Zeit für eine Verkehrswende! Doch damit diese gelingt, muss der Vorschlag ernsthaft diskutiert werden, mahnt Heike Sudmann: Nötig wäre etwa ein vorangehender Ausbau des ÖPNV. 

Augen reiben, Haare raufen, verfrühter Aprilscherz – selten hat eine Aktion der Bundesregierung so viele erstaunte Reaktionen hervorgerufen.  Am 11. Februar 2018 schrieben für die geschäftsführende Bundesregierung die Umweltministerin Barbara Hendricks (SPD), Verkehrsminister Christian Schmidt (CSU) und Kanzleramtschef Peter Altmaier (CDU) an die EU-Umweltkommissarin einen Brief, in dem sie einen 6-Punkte-Plan gegen die Luftverschmutzung in Deutschland ankündigen. Als ein Hauptpunkt wird dabei ein für die Nutzer_innen kostenfreier Öffentlicher Personennahverkehr (ÖPNV) genannt. Eine Forderung, die bisher nur von der Linken, den Grünen und den Piraten erhoben wurde und von den anderen Parteien in schöner Regelmäßigkeit als unrealistisch abgetan wurde. Ein echter Sinneswandel oder nur ein durchschaubarer Versuch, eine mögliche Klage vor dem Europäischen Gerichtshof mit millionenschweren Strafzahlungen wegen der Überschreitung der Schadstoffgrenzwerte in Deutschland abzuwenden?

„Die Welt von den Autos zurückholen“

Wer sich die Prognosen zum Klimawandel und den negativen Beitrag des Motorisierten Individualverkehrs (MIV) ansieht, wer die steigenden Zahlen von PKW’s in Hamburg registriert,  wer den Flächenverbrauch von Stellplätzen an Straßen und im öffentlichen Raum den Flächen für Kinderspiel, Grün und Erholung gegenüberstellt,  kann nur zu der Schlussfolgerung kommen, dass es höchste Zeit für eine Verkehrswende ist. Weniger Autoverkehr sorgt für weniger Luftbelastung, weniger Lärm und weniger Flächenverbrauch. Wenn ich die notwendige Mobilität des Menschen nicht einschränken will, muss ich Alternativen zum Autofahren anbieten. Neben dem Fuß- und Radverkehr spielen hier die öffentlichen Verkehrsmittel – Bus, Bahnen und in Hamburg auch Schiffe – eine sehr wichtige Rolle. Ist ihr Angebot so gut, dass ich ohne lange Wartezeiten, ohne überfüllte Abteile und mit gutem Komfort vorankomme, können Autofahrer_innen zum Wechsel bewegt werden. Nach repräsentativen Umfragen des Umweltbundesamts aus dem Jahr 2014 sind 84 Prozent der Befragten dafür, Städte und Gemeinden gezielt so umzugestalten, dass man kaum noch auf das Auto angewiesen ist. Diese verbale Aufgeschlossenheit ist noch lange nicht gleichbedeutend mit einer Verhaltensänderung, deshalb bedarf es begleitender Maßnahmen, die neben Aufklärung auch eine Einschränkung des Autoverkehrs mit sich bringen.

Weshalb sich die Verkehrspolitik nicht weiter an dem Auto orientieren darf, bringt Christian Stöcker in seiner Spiegel-Kolumne vom 18. Februar 2018 schön auf den Punkt: „Wir müssen nämlich einen fundamentalen Irrweg korrigieren: Die Tatsache, dass wir es heute für akzeptabel halten, wenn täglich Millionen Menschen allein in fünfsitzigen, anderthalb Tonnen schweren, Gift und CO2 ausstoßenden, jährlich tausendfach tötenden Maschinen herumfahren. Maschinen, die ihrerseits wiederum 23 von 24 Stunden pro Tag herumstehen und damit für ein menschheitsgeschichtlich einmaliges Ausmaß an Flächenversiegelung und Platzverschwendung sorgen. Wir müssen uns die Welt von den Autos zurückholen.“ 

Gratis-ÖPNV funktioniert nur mit guten Angeboten

Um den von Stöcker beschriebenen automobilen Irrweg verlassen zu können, müssen Alternativen vorhanden sein. Der Gratis-ÖPNV, also die fahrscheinlose Nutzung von Bussen und Bahnen, kann zu einer Reduzierung des Autoverkehrs beitragen.  Dieses richtige Ziel kann jedoch nicht mit einer aus der Hüfte geschossenen Aktion erreicht werden. Ohne einen vorherigen Ausbau des ÖPNV gibt es nicht die notwendigen Kapazitäten, um den zu erwartenden Anstieg der Fahrgastzahlen auch nur annähernd bewältigen zu können. Überfüllte Busse und Bahnen, lange Wartezeiten und schlechte Angebote sind ähnlich reizvoll wie Pickel am Allerwertesten und bewegen nicht zum Umsteigen.

Gratis-ÖPNV macht Mobilität für alle möglich

Wenn ich Mobilität in der Stadt so begreife, dass ich mich nicht nur über kurze Strecken, sondern auch über längere Strecke durch die Stadt bewegen kann, muss ich feststellen, dass es diese Möglichkeit für etliche Menschen nur eingeschränkt gibt. Der in den Hartz IV-Sätzen enthaltene Anteil für Fahrkarten reicht weder für häufige Fahrten noch für eine Monatskarte aus, schon gar nicht für eine Monatskarte ohne zeitliche Begrenzung (Sperrzeiten zwischen 06.00 und 09.00 sowie zwischen 16.00 und 18.00 Uhr).  Das gilt auch für Menschen, deren Einkommen knapp über den staatlichen Einkommensgrenzen liegt. Die Schließung von öffentlichen Einrichtungen in  (ärmeren) Stadtteilen und/oder  deren Zentralisierung an wenigen Orten in der Stadt – von Ortsdienststellen über Häuser der Jugend oder SeniorInnenberatung –  grenzt Menschen mit wenig Geld für Fahrkarten aus, von Theater-oder Konzertbesuchen gar nicht erst zu reden. Deshalb ist auch aus sozialen Gründen ein für die NutzerInnen kostenfreier ÖPNV nötig.  1543551181_2749f430d1_o-300x225

Bundesregierung will nachdenken

Der Verdacht der schriftlichen Beruhigungspille für die EU scheint sich zu bewahrheiten. Ohne einen vorangehenden Ausbau und ohne Finanzierungs- und Zeitrahmen für einen kostenlosen ÖPNV wirkt die Idee sehr unausgegoren. Mittlerweile rudert die Bundesregierung auch zurück, es handle sich nur um Vorschläge, über die man gemeinsam mit den Ländern und Kommunen nachdenken müsse. Zum Nachdenken muss dann auch die Finanzierung gehören. Städte und Gemeinden, aber auch Verkehrsverbünde haben in ihren ersten Reaktionen unisono gefragt, wie der Gratis-ÖPNV finanziert werden soll. Ohne Gelder vom Bund würde das nicht gehen. Der Hamburger Verkehrsverbund schockte gleich alle Beteiligten mit dem Hinweis auf die jährlichen Fahrgeldeinnahmen in Höhe von über 800 Mio. € , die ersetzt werden müssten.

Autoverkehr dreimal so teuer wie ÖPNV

Kaum genannt wurden und werden jedoch die Folgekosten des Autoverkehrs, die von der Allgemeinheit zu tragen sind.  Umweltschäden, Gesundheits- bzw. Krankheitsfolgekosten oder Straßenbaumaßnahmen  sind nur einige der sogenannten externen Kosten, die nicht durch die Autofahrende selbst finanziert werden. Für das Jahr 2005 hat das Umweltbundesamt  die externen Kosten des Autoverkehrs auf 53 Mrd. € beziffert. Auf Hamburg umgerechnet ergab sich für 2010 ein Betrag von 629 €, den jede_r Hamburger_in, vom Baby bis zum Greis, an Folgekosten zu tragen hat. 

Vor wenigen Tagen wurde ein Rechenmodell der Universität Kassel bekannt, das die Kosten der Verkehrssysteme ÖPNV, Pkw, Lkw, Rad- und Fußverkehr ermittelt.  Neben der Infrastruktur wie Straßen, Schienen und Haltestellen wurden auch Folgen von Lärm, Umweltverschmutzung und Unfällen berücksichtigt. Das Ergebnis lautet: der Autoverkehr in einer deutschen Großstadt ist für die öffentliche Hand dreimal so teuer wie der ÖPNV. Eine andere Finanzierung für den ÖPNV, eine Umverteilung, ist also möglich. Verschiedene Ideen bis hin zum Gratis-ÖPNV stehen dabei im Raum: Bürger_innenticket, Nahverkehrsabgabe, Abschaffung des Dieselsprivilegs (laut VCD kostet die verminderte Besteuerung des Dieselkraftstoffs den Staat jährlich 7,4 Mrd. €, Abgaben der Arbeitgeber_innen  wie in Wien, 1 Euro pro Tag für den ÖPNV (365,- €-Jahresticket).  Diese Ideen sind sicherlich gerechter und umweltfreundlicher als der aktuelle Vorschlag einer Expert_innenkommission der Bunderegierung, die Hardware-Nachrüstung der schmutzigen Dieselfahrzeuge nicht von der Verursacherin, der Autoindustrie, bezahlen zu lassen, sondern durch Steuergelder zu finanzieren. Die hierfür erforderlichen Milliarden Euro sind im ÖPNV auf jedem Fall besser angelegt.

Auch wenn der Vorstoß der Bundesregierung  zum Gratis-ÖPNV mehr der Beruhigung der EU und der Autoindustrie- bzw. -lobby diente: Noch nie war die Tür zu einer ernsthaften Auseinandersetzung um den kostenfreien ÖPNV so weit geöffnet wie jetzt. Nutzen wir das für die Entwicklung von vernünftigen Schritten in die richtige Richtung: Nötig sind ein Ausbau des ÖPNV, eine Senkung der Fahrpreise, das Zurückdrängen der autofixierten Politik und weiterer Ausbau des ÖPNV, etwa durch ein 365 €-Ticket oder ein Gratis-Ticket.

Weiterführende Links:

Petition an die hamburgische Bürgerschaft: HVV für Alle – 1 Euro am Tag ist genug

Nulltarif im öffentlichen Nahverkehr – Eine Offensive für sozialökologische Mobilität und Lebensqualität  – Hrsgin: DIE LINKE im Bundestag

 

Foto: „S-Bahn Pinneberg“ (CC BY 2.0) by ceiling /IMG_8626.jpg“ (CC BY-NC 2.0) by kevin.hackert