Veranstaltungsbericht: Fachtag Schulpflicht – Schulzwang – Recht auf Bildung!

Am 28./29.9.2018 fand im Hamburger Rathaus ein Fachtag statt unter dem Titel „Schulpflicht – Schulzwang – Recht auf Bildung!“,  veranstaltet von Fraktion DIE LINKE in der Hamburger Bürgerschaft, Initative Frei-sich-bilden, Jugendparlament in Hamburg i.G.

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Foto: Jennik Pickert

Als Auftakt des Fachtags wurde der Film der französischen Schauspielerin Clara Bellar „Being and Becoming“ von 2014 gezeigt. Nach einem Willkommensgrußwort durch Sabine Boeddinghaus, bildungspolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE in der Hamburgischen Bürgerschaft, sah ein gemischtes, interessiertes Publikum von ca. 60 Personen, wie eine Reihe von Familien in ihren Bildungswegen als Freilerner_innen portraitiert werden. Anschließend begann eine angeregte Diskussion über die Schulpflicht und deren oftmals rigide Durchsetzung sowie die aufgezeigten alternativen, ungezwungenen Bildungswege und ihre Grenzen (Rezensionen des Filmes hier: https://bit.ly/2ySLsd8 und hier: https://bit.ly/2PMMgr3).

Grundlegend sei es, so betonte Sabine Boeddinghaus bei ihrer Begrüßung am Samstagmorgen, die Diskussion zu eröffnen, und angstfrei über Widersprüche, Leiden, Hemmnisse und Potentiale im derzeitigen Bildungssystem zu sprechen. Sie erkannte die historische Leistung der Einführung der Schulpflicht an, die der allgegenwärtigen Kinderarbeit ein frühes Recht auf elementare Bildung entgegensetzte. Doch im 21. Jahrhundert sollte ihre rigorose Anwendung überdacht und die Potentiale nicht-repressiver Lernorte reflektiert werden. Sie hob hervor, dass allein die sichtbare Anwesenheit zahlreicher junge Menschen und Kinder auf diesem Fachtag eine besondere Qualität ausmachen würde.

Tanja Gwiasda von der Initiative Frei-sich-bilden forderte eine differenzierte Betrachtung des Freilernens, da es nicht um eine grundlegende Ablehnung der Schule ginge, sondern um Alternativen, die den leidenden Kindern und verzweifelten Familien Auswege aus der Kriminalisierung und Psychiatrisierung böten. Der Schule fern zu bleiben sei ihrer Erfahrung nach oftmals eine Notbremse für Kinder und Familien. Vom Fachtag erhoffte sie sich wechselseitige Bereicherung.

Sunny Kapoor, Vertreter des Jugendparlaments Hamburg i.G. begrüßte es, dass bei diesem Fachtag nicht nur der Schule entwachsene Fachleute sprechen, sondern auch betroffene Schülerinnen und Schüler ihre Erlebnisse und Perspektiven einbringen würden.

Der Fachtag begann mit einem instruktiven Vortrag des Rechtsanwalts Jost von Wistinghausen, der die rechtlichen Rahmenbedingungen und juristischen Auseinandersetzungen benannte und betonte, dass allein drei Bundesländer – Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern – Schulpflichtverletzungen strafrechtlich verfolgen. Seines Erachtens stehen wir an einer kritischen Schwelle, da die Masse an juristischen Verfahren die Gerichte zu einem Überdenken der Notwendigkeit der Schulpflicht dränge. Die Widersprüche des Rechtssystems, in welchem landesrechtliche Vorschriften trotz vorrangiger bundesrechtlicher Gesetze und Auslegungen – wie der individuellen Willensbekundung, des Gewaltverzichts in der Erziehung, die Menschenwürde, und der Paradoxie der hohen Kosten und des geringen Nutzens der Durchsetzung der Schulpflicht – vollzogen werden, würden seines Erachtens zum Nachteil der Kinder und der Familien bestehen bleiben.

Im Anschluss an die Diskussion erläuterten Karen Kern und Franziska Klinkigt Folgen der Durchsetzung der Schulpflicht für die betroffenen Schüler_innen und Familien. Der Leidensdruck der Kinder, die unter den Bedingungen in den Schulen, Mobbing, Ungleichbehandlung und Stress litten, werde bei der Durchsetzung der Schulpflicht noch verstärkt, Familien extrem belastet und Kinder traumatisiert. Fragen von Willensbekundungen, Gesundheit und emotionaler Sicherheit sowie das relativ junge Züchtigungsverbot der Eltern spielten ebenso in den Komplex des Freilernens bzw. der Verletzung der Schulpflicht hinein wie das Schwinden unkontrollierter Räume für Kinder und Jugendliche, die auch Räume kindlicher Bildung gewesen seien. Selbstbestimmung werde in der Schule durch Zwang zur Disziplin zunichte gemacht und fälschlicherweise dafür wiederum die Familien verantwortlich gemacht. Zudem verlören viele Kinder ihre Neugier und ihre Lernlust gerade dort, wo sie sie verwirklichen sollen: in der Schule. Die Erfahrung von Zwang und Gewalt schlage sich nicht nur auf die Kinder in der Schule nieder, sondern spiegele sich in die Familien zurück, denen der Vorwurf der Kindeswohlgefährdung und damit die Inobhutnahme des Kindes drohen.

Als letzter Experte sprach der Wittener Philosoph Philip Kovce, der freies Lernen als Bestandteil einer generellen freiheitsorientierten Bildung charakterisierte. Sein historischer und geistesgeschichtlicher Exkurs endete mit einer Betonung dreifacher Freiheiten: Der Freiheit der Person, der Institution und der Gesellschaft, welche sich wiederum in drei Kategorien unterteilen ließen: negative, positive und initiative Freiheit. Bezogen auf die Person, führte Kovce aus, seien dies die Freiheit „Nein“ zu sagen, die Wahlfreiheit und die Koalitionsfreiheit. Im Hinblick auf die Institution unterschied er zwischen verschiedenen Formen von Bildungsinstitutionen, angefangen von Schulen über Unis und Kitas bis zur VHS. Hier sollten, so Kovce, die Freiheit zwischen Angestellten und Institution zueinander „Nein“ zu sagen – sich also in einem freien Arbeitsverhältnis zu trennen – ebenso vorliegen wie die Möglichkeit der Einzelnen sich zwischen unterschiedlichen Bildungsangeboten zu entscheiden. Zudem sollten die Einrichtungen unternehmerische Entscheidungskompetenz für die Umsetzung der einzelnen pädagogischen Konzepte zu Grunde legen. Die gesellschaftlichen Freiheiten bestimmte Kovce darin, dass sich der Staat nicht über die Maßen in Bildungsangelegenheiten einmischen solle, und dadurch den freien, intrinsischen  Bildungsprozess hindere und zulasten der öffentlichen Hand gängele. Schulen in freier Trägerschaft, so schwebte es Kovce vor, sollten den gesellschaftlichen Nutzen maximieren, weil es die Schulen der Gesellschaftsmitglieder seien, die sich eine Vernachlässigung ihrer Einrichtungen in qualitativer wie pädagogischer Hinsicht nicht erlauben könnten, da eine freie Einrichtungswahl gelten müsse. Verweisend auf Alexander von Humboldt, Max Stirner und Joseph Beuys erhoffte sich Kovce eine wechselseitige Bildung und Förderung zwischen Lehr- und Lernpersonen.

In den nach der Mittagspause abgehaltenen Workshops wurden einzelne Aspekte, die schon in den Beiträgen der Referent_innen angeklungen waren, vertiefend diskutiert. Dabei wurde individuellen Erfahrungen und Sichtweisen gegeben. Die Diskussion verlief auch unter Betonung der Differenzen wohlwollend.

Insgesamt 110 Teilnehmer*innen aller Altersgruppen beteiligten sich an den Diskussionsrunden und Workshops und nutzten auch die Pausen zum ausgiebigen Gespräch und Austausch.

Vom Publikum wurden die Beiträge angeregt aufgenommen und mit Interesse diskutiert, wobei auch deutlich gemacht wurde, dass es seitens der Betroffenen weniger um einen generellen Kampf gegen die Schule als Institution als um eine von Sorge und Achtsamkeit getragene Suche nach Alternativen zur Schulpflicht, die auf ihren Kindern lastet, geht.

Vielfach wurde Lob und Überraschung darüber bekundet, dass mit der Linksfraktion in der Hamburgischen Bürgerschaft, sich erstmal eine politische Partei des Themas und der Problematik der Schulpflicht angenommen hat.

Deutlich wurde in Bezug auf einen linken schul- und bildungspolitischen Ansatz, dass es mit den hier kennengelernten Freilernenden Interessensübereinstimmungen gab. Denn die Forderung nach einer demokratischen Schule für alle, die inklusiv und integrativ Kinder in ihrem individuellen Bildungsweg fördert und unterstützt, ist nahe an den Wünschen und Hoffnungen der Kinder und ihrer Eltern, die aus verschiedenen Gründen nicht zur Schule gehen. Wenn auch die Betonung freiheitlich-individualistischer Konzepte der Beschulung und der Lösung des Bildungssystems aus der staatlichen Verantwortung von links kritisiert werden kann, ist der Wunsch, die Schule nach innen flexibler den Fähigkeiten und Bedürfnissen der Kinder anzupassen und vor allem die Repression aus der Schulpflichtverletzung heraus zu nehmen, nachvollziehbar und unterstützenswert. Anknüpfungspunkte gibt es viele, die positive Schulerfahrungen und nachhaltige, angstfreie Gelingensbedingungen von Bildung befördern könnten. Dies wäre, so waren sich die Veranstalter*innen einig, auch ohne die Abschaffung der Schulpflicht möglich – auch wenn sie im internationalen und europäischen Vergleich eine Ausnahme ist.

Perspektivisch wäre es lohnenswert, die sozialen Bedingungen, unter denen Schulabsentismus entsteht wie auch die Folgen der staatlichen Repressionsmaßnahmen zu untersuchen. Eine Große Anfrage der Linksfraktion deutete kürzlich an, dass es durchaus eine Korrelation zwischen sozialem Status und Einkommen mit dem Auftreten von Schulabsentismus wie auch den verhängten Bußgeldern gibt (Drs. 21/14266). Die soziale und ökonomische Dimension des Schulabsentismus aber zu erfassen, dazu sieht der Hamburger Senat keine Veranlassung und erhebt entsprechende Zahlen erst gar nicht. Dass Schulabsentismus vor allem in den Hochzeiten der Pubertät aufblüht, lässt die Vermutung zu, dass die Interessenslage und lebensweltliche Orientierung von Jugendlichen zu dieser Zeit zum Einen anders liegen, und sie zum Anderen hochsensibel auf ihre Umwelt reagieren. Ob dort Repression auch seitens des Staates Probleme löst oder nur auf andere Ebenen verdrängt werden, ließe sich fragen. Aber sowohl zu Gründen und Erfahrungen der Schulabsentist*innen wie auch zu ihrem Folgeverhalten kann die Behörde für Schule und Berufsbildung in Hamburg nichts sagen. Um das Phänomen jedoch überhaupt erst umfänglich zu erfassen und dadurch wissenschaftlich und pädagogisch aufzuarbeiten, bedürfte es neben der Erhebung und Auswertung eines größeren Satzes an Daten einer vertrauensvollen Zusammenarbeit mit Kindern, Jugendlichen und Eltern. Zu bedenken wäre ebenfalls, dass Bildung weder an den Schultoren aufhört noch die Lernbedingungen allein von der Schule abhängen. Die sozialen Lagen der Kinder, Jugendlichen und ihrer Familien rücken dadurch auch in schulpolitischer Hinsicht in den Blick. Sie zu stärken und finanzielle Sorgen und Nöte abzumildern würde auch in schulischer Hinsicht eine Erleichterung bedeuten können.

Als Linke fordern wir, die Qualität und Ausstattung der staatlichen Schulen, in denen ja auch in den Ländern ohne Schulpflicht der Großteil der Bildung der Kinder und Jugendlichen stattfindet, deutlich zu erweitern. Da es nicht nur um sächliche Mittel, sondern ebenso um pädagogische Konzepte und schulpolitische Zielsetzungen geht, würde es bedeuten, bisherige Modelle und Traditionen, in denen Kinder und Jugendliche auf den Platz passiver Rezipient*innen und Objekte staatlicher gestutzt wurden, zu ändern. Dies zielt auf ihre Befähigung zu mündigen Bürger*innen in einer demokratischen Republik ab.

Auch wenn wir uns als Linke konsequent für eine demokratische und inklusive Schule einsetzen, in der auch die Rechte der Kinder und ihre Bedürfnisse im Zentrum stehen, erkennen wir an, dass Schule nicht der alleinige Ort der Bildung ist. Studien belegen, dass in vielen verschiedenen Kontexten prozentual mehr Bildung stattfindet als im Schulgebäude. Museen, Vereine, Sport und Einrichtungen der offenen Kinder- und Jugendarbeit wären da nur einige. Wir fordern, dass diese Erkenntnis in die schulischen und bildungspolitischen Konzeptionen einfließt und die Öffnung des Lernens sich an den Kindern und Jugendlichen orientiert.