Armutsbericht: „Der Senat macht Politik gegen die Mehrheit der Menschen“

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Der Paritätische Wohlfahrtsverband hat seinen Armutsbericht 2016 veröffentlicht. In keinem anderen Bundesland ist die Armut so gestiegen wie in Hamburg – besonders RentnerInnen sind betroffen. Darüber sprachen wir mit Cansu Özdemir, der sozialpolitischen Sprecherin der Fraktion DIE LINKE in der Hamburgischen Bürgerschaft.

Frau Özdemir, was sagt der Bericht über die Situation in Hamburg aus? Und was davon ist neu?

Cansu Özdemir: Neu und alarmierend ist besonders, wie massiv die Altersarmut anwächst. Die Zahl der SeniorInnen, die auf Grundsicherung angewiesen sind, steigt in Hamburg überdurchschnittlich an. Der Armutsbericht bestätigt auch den jahrelangen grundsätzlichen Trend: Der wachsende Wohlstand kommt nur wenigen Menschen zugute, die Armut verfestigt sich. Mehr als jeder und jede sechste HamburgerIn ist mittlerweile arm oder von Armut bedroht.

Wie sieht die Armut in Hamburg konkret aus?

Als armutsgefährdet gelten Menschen, deren Einkommen weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens aller Haushalte beträgt. Bei Einpersonenhaushalten lag die Armutsschwelle im Jahr 2014 bei 917 Euro, bei Familien mit zwei Kindern bei 1926 Euro.Özdemir: Wer arm ist, kann einfach nicht an der Klassenreise, am Ausflug oder am Kindergeburtstag teilnehmen, von kultureller Teilhabe ganz zu schweigen. Arme HamburgerInnen wohnen in den am stärksten lärm- und schadstoffbelasteten Stadtteilen, mit weniger Grün und weniger Infrastruktur, sie haben weniger Wahlmöglichkeiten bei Schulen und medizinischer Versorgung, sie fahren meist nicht in den Urlaub und können sich oft nicht einmal die Fahrkarte in den nächsten Stadtteil zu einer anderen Schule, einem Sportverein, Arzt oder Bank leisten. Arm sein heißt, sich keine Zähne, keine Brille, keine neue Kleidung leisten zu können. Das betrifft in Hamburg über zwölf Prozent der RentnerInnen, Tendenz stark steigend, außerdem viele Alleinerziehende, dazu Langzeitarbeitslose und über 20 Prozent aller Hamburger Kinder.

Was bedeutet die wachsende Armut für Hamburgs Zukunft?

Özdemir: Armut teilt die Gesellschaft in „oben und unten“, in „zu wenig“ und „zu viel“, in Teilhabe und Ausgrenzung. Es gibt viel mehr Arme als Reiche. Das entmutigt viele Menschen. Ihr Gefühl, sozial und wirtschaftlich abgehängt zu sein, zeigt sich im Wahlverhalten. Bei der Bürgerschaftswahl 2015 lag die Beteiligung bei 56,9 Prozent – so niedrig wie nie zuvor. Dass prekäre Stadtteile zu Nichtwähler-Hochburgen geworden sind, belegt die soziale Spaltung der Hansestadt. Armut und Abstiegsängste der unteren Mittelschicht gefährden die Demokratie auch direkt: Armut begünstigt Rechtspopulismus. Insbesondere bei der gegenwärtigen großen Wanderungsbewegung ist dies im wahrsten Sinne des Wortes „brandgefährlich“.

Was wirft DIE LINKE in diesem Zusammenhang dem Senat konkret vor?

Özdemir: Auf das Problem der Altersarmut ist der Senat gar nicht eingestellt. Es gibt kaum altersgerechte Sozialwohnungen, so gut wie gar keine Wohnprojekte für von Armut betroffene SeniorInnen, viel zu wenig Pflegekräfte und kaum öffentliche Unterstützungen für arme ältere Menschen, die selbstbestimmt in ihrer Wohnung leben möchten.
Dann greift jetzt der jahrelange Sozialabbau, geradezu ein Kahlschlag im öffentlichen Bereich, den uns die anderen Parteien mit ihrer Schuldenbremse eingebrockt haben. Das ist überall zu spüren: Einschränkungen der Öffnungszeiten oder gar Schließungen von Einrichtungen der sozialen Infrastruktur, monatelange Wartezeiten in den Ämtern, vernachlässigtes öffentliches Grün. Energiekosten und Mieten steigen, der HVV erhöht ungeniert jährlich die Fahrpreise, ein echtes Sozialticket gibt es nicht mehr und die Schulen und Turnhallen sind oft in einem miserablen Zustand.

Das sind allerdings jede Menge Versäumnisse.

Die Armutsquote bei Hamburger RentnerInnen ist auf 13,3 Prozent und damit auf einen neuen Rekordwert gestiegen. Seit 2006 hat sich die Zahl mehr als verdoppelt. Özdemir: Stimmt. Aber die größte Herausforderung ist in Hamburg, ausreichend bezahlbaren Wohnraum zu schaffen. Schon seit Jahren gibt es rund 90.000 Wohnungen zu wenig. Das Wohnungsbauprogramm des Senats reicht vorn und hinten nicht. Deshalb braucht Hamburg mehr denn je einen sozialpolitischen Kurswechsel.

Was tragen die Grünen zur Bekämpfung der Armut bei?

Özdemir: Die von den Grünen im Wahlkampf geforderte Enquete-Kommission hätte ein erster Schritt zu einer Strategie im Kampf gegen Armut sein können. Dass die Grünen diese Forderung, wie viele andere auch, in der Regierung über Bord geworfen haben, zeigt wie gering ihr Interesse an einer ernsthaften Bekämpfung der steigenden Armut in der Stadt ist. Der Senat macht zugunsten einer reichen Oberschicht Politik gegen die Mehrheit. Er muss aber endlich wieder Verantwortung für alle Menschen übernehmen!

Was muss da nach Ansicht der LINKEN geschehen?

Özdemir: Einiges, wie eine angemessene Besteuerung von Vermögen und die Anhebung der Rentensätze auf 53 Prozent, kann nur auf Bundesebene geklärt werden, doch Hamburg kann da Bundesinitiativen anstoßen. Vor Ort müssen bis Ende des Jahres rund 60.000 Menschen in Wohnraum gebracht werden – etwa 50.000 Flüchtlinge, 8.000 Menschen aus den öffentlichen Unterkünften und rund 2.000 Obdachlose). Der städtische Sozialwohnungsbau muss deshalb massiv angekurbelt werden. Studien zufolge fehlen in Hamburg seit Jahren rund 90.000 Wohnungen. Außerdem muss die Stadt zum Beispiel Entlastungen bei den Energiekosten und den Fahrkosten im öffentlichen Nahverkehr durchsetzen – das kann sie problemlos, wenn sie will.

Und wie soll das möglich werden?

Özdemir: Dazu brauchen wir eine Trendwende hin zu einer neuen Verteilungsgerechtigkeit in Hamburg. Die Investitionen müssen in die Infrastruktur fließen und nicht in Großprojekte für die Oberschicht wie die Elbphilharmonie oder Olympia. Für eine freie, friedliche Stadtgesellschaft müssen wir den Reichtum zugunsten eines Wohlstands für alle verteilen. Nicht jedeR kann in Blankenese wohnen aber zumindest sollte jedeR HamburgerIn sich die Fahrtkarte dahin leisten können.

Zusammengefasst: Die soziale Schere wird größer, besonders die Altersarmut ist stark angestiegen. Vor dem Hintergrund des Sozialabbaus, steigender Energie- und Mietkosten und HVV-Preise geraten immer mehr Menschen in eine Armutsspirale – der Senat tut jedoch viel zu wenig, um diese aufzuhalten. DIE LINKE fordert eine ausreichende Finanzierung der öffentlichen Daseinsfürsorge, bezahlbaren Wohnraum, eine Anhebung der Rentensätze und Entlastungen bei Energiekosten und im öffentlichen Nahverkehr. Finanziert werden könnte dies durch eine soziale Umverteilung, etwa eine angemessene Vermögenssteuer – und durch Investitionen in soziale Infrastruktur statt milliardenschwerer Großprojekte.