„Bis heute haben Männer meiner Altersstufe Angst, sich als Schwule zu outen“

Ein Gespräch über Geschichte und Gegenwart der gesetzlichen Schwulenverfolgung

Gottfried Lorenz 02 - Foto Rüdiger Trautsch Seit dem 30. Juli läuft die Hamburg Pride Week. Mit der Hamburger Schwulengeschichte beschäftigt sich Dr. Gottfried Lorenz (76) seit vielen Jahren, er hat mehrere Bücher und Ausstellungen zum Thema erarbeitet. Er sprach auch auf einer Veranstaltung der Fraktion DIE LINKE zum Hamburg Pride am 31. Juli im Pride House, die sich mit §175 StGB und der Forderung nach der Aufhebung der Urteile gegen Schwule auseinandersetzte – hier gibt es einen kurzen zusammenfassenden Clip dazu.

Herr Lorenz, aktuell fordern wieder viele Schwule und Lesben die Aufhebung der Urteile nach dem §175 des Strafgesetzbuchs. Von Unrechtsurteilen und Schandparagraphen ist da die Rede. Was verbirgt sich hinter diesem berüchtigten Paragraphen?
Der §175 war ein Sonderstrafrecht gegen Männer, die gleichgeschlechtliche Handlungen vornahmen. Diese Gesetzgebung stammt vom Norddeutschen Bund und wurde 1872 im ganzen Deutschen Reich gültig. Bis dahin waren homosexuelle Handlungen zum Beispiel in Bayern oder im Land Hannover nicht strafbar. Der kaiserzeitliche Paragraph bestrafte auf Grund der Interpretation der obersten Reichsgerichte lediglich beischlafähnliche Handlungen, zunächst nur Anal-, später auch Oralverkehr.

Sie sagen „zunächst“ – wie hat sich das entwickelt?
1935 wurde dieser Paragraph von den Nazis verschärft und auf alle Handlungen zwischen Männern ausgedehnt, die in irgendeiner Weise sexuell gedeutet werden konnten: vom „geilen“ Blick über körperliche Berührungen bis zum Analverkehr. Zusätzlich wurde §175a eingeführt mit verschärften Strafen für sexuelle Übergriffe auf Minderjährige (§175a Abs. 3) bzw. männliche Prostitution (§175a Abs. 4). Handlungen nach §175 galten als Vergehen, solche nach §175a als Verbrechen und konnten deshalb mit höheren Zuchthausstrafen geahndet werden.

Wie wurde nach dem Ende des Faschismus damit umgegangen?
Nach dem Zweiten Weltkrieg behielt die Bundesrepublik die Paragraphen 175 und 175a in der Fassung von 1935 bei, während die DDR zur alten, schwächeren Form zurückkehrte. Nach der Verhaftung des DDR-Justizministers Max Fechner wegen homosexueller Handlungen leitete dessen Nachfolgerin Hilde Benjamin Mitte der 1950er Jahre eine Wende ein, seitdem wurden homosexuelle Handlungen in der DDR in der Regel nicht mehr bestraft. Der Paragraph selbst wurde 1968 offiziell gestrichen.
In der Bundesrepublik gab es 1969 eine erste, 1973 eine zweite Reform des §175. Erst 1994, durch die Rechtsangleichung im Zuge der Vereinigung von BRD und DDR, verschwand der §175 aus dem StGB.

Warum gab es diesen Paragraphen in der BRD so lange?
Dahinter stand die breite Ablehnung Homosexueller und homosexueller Handlungen in der deutschen Gesellschaft, und zwar von links bis rechts. Homosexuelle wurden ausgegrenzt, diskriminiert, beleidigt, verloren ihre Arbeitsstellen, Wohnungen, galten als Volksschädlinge, weil sie keine Kinder zeugten, als Verführer der Jugend, als dekadente Menschen, als schwule Nazis. Und der Vorwurf der Homosexualität konnte leicht instrumentalisiert werden, um missliebige Personen als Konkurrenten auszuschalten. Eine Lobby für die Rechte der Homosexuellen gab es zwar. Sie hatte aber keine Chancen, sich durchzusetzen, obwohl von Ernst von Wildenbruch, einem Verwandten und Freund des Kaisers, bis August Bebel auch hier das gesamte Spektrum vertreten war. Die Kirchen waren genauso homophob wie die Arbeiterbewegung. Und Maxim Gorkij wird zitiert mit der Zustimmung zu dem Satz: Rottet die Homosexuellen aus, und ihr rottet den Faschismus aus.

Das ist ein ziemlich breites homophobes Spektrum.
Die Verschärfung des §175 StGB in der Nazizeit dürfte von der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung begrüßt worden sein. Und die Reform bzw. Abschaffung des §175 StGB in der DDR und viel später in der Bundesrepublik beruhte keinesfalls auf dem Willen der Bevölkerung, sondern ist von einsichtigen Politikern und Politikerinnen durchgesetzt worden!

Gottfried Lorenz 01 - Foto Rüdiger Trautsch Wie hat sich dieser Paragraph in Hamburg konkret ausgewirkt?
Hamburg ist Teil des Landes, in dem der §175 StGB galt, und dieser Paragraph wurde umgesetzt – in Hamburg nicht anders als an anderen deutschen Orten. Für Hamburg galt natürlich auch das, was oben gesagt wurde: Diskriminierung, Ausgrenzung usw. Homosexueller. Die meisten Verurteilungen nach dem §175 beruhten auf der Denunziation durch Bekannte, Freunde, Eltern – und viel weniger als man vermuten könnte auf  eigenständigen Ermittlungen der Polizei.

Wie viele solche Verfahren gab es in Hamburg?
In der Nachkriegszeit, zwischen 1945 und 1969, sind in Hamburg 334 Hauptverfahren nach § 175 eingeleitet worden. 109 Männer mussten deshalb Freiheitsstrafen verbüßen, 72 wurden zu Bewährungsstrafen verurteilt und 50 zu Geldstrafen. Freigesprochen wurden in diesen Prozessen 38 Männer, 48 Verfahren wurden eingestellt, weitere 14 aufgrund einer Amnestie. Außerdem wurden zwei Anklagen zurückgenommen und einmal die Eröffnung des Hauptverfahrens abgelehnt. Die Zahl der von polizeilichen Ermittlungen betroffenen Menschen lag aber wesentlich höher als die derjenigen, die tatsächlich vor Gericht kamen.

Wirkt diese Verfolgung bis heute nach?
Ja, bis heute wirkt die Verfolgungszeit auf diejenigen nach, die sie erlebt haben. Und es ist Wunschdenken wenn man meint, dass es heute keine massive homophobe Grundstimmung gebe. Zeitgenossen der Verfolgung haben ihr Leben unter dieser Bedrohung geführt und sich oft auch „eingerichtet“, nicht wenige sind traumatisiert. In meiner Generation gibt es viele homosexuelle Männer, die verheiratet waren, um ihre Veranlagung zu verstecken. Bis heute haben Männer meiner Altersstufe Angst, sich als Schwule zu outen.

Warum ist die Rehabilitierung/Entschädigung für die Opfer so wichtig?
Es geht ja nicht nur um die immer wieder zitierten bundesweit 50.000 Urteile, sondern um die Verfolgung hunderttausender Männer wegen ihrer sexuellen Orientierung. Die Einstellung eines Verfahrens per Urteil, die Freisprechung sind auch Urteile – aber wie sollen sie individuell entschädigt werden? Denn entschädigt werden ja nur Haftstrafen. Und doch haben auch diese Männer schwere Wochen und Monate hinter sich mit langwierigen Ermittlungen, Prozess, Beschuldigungen in der Presse etc.

Also wäre die Forderung nach einer Rehabilitierung praktisch gar nicht so leicht umzusetzen.
Viele Opfer sind längst tot und die Hamburger Urteile nach §175 sind ausnahmslos nicht mehr vorhanden. Sie waren archivalisch so bedeutend wie Handtaschendiebstahl oder Verkehrsdelikte und wurden irgendwann geschreddert. Was erhalten ist, sind Urteile nach §175a Abs. 3, also Urteile, die Übergriffe Homosexueller auf Jugendliche betreffen, und nach §176, Übergriffe auf Kinder. Und sollen diese Urteile auch aufgehoben werden? Viele dieser Fälle wären auch heute strafbar. Welche Reaktion würde es darauf geben? Und: Viele Männer, die wegen homosexueller Handlungen verurteilt worden waren, sind bisexuell oder sogar überwiegend heterosexuell. Wollen diese Männer erinnert werden an das, was war? Sollen ihre Frauen davon erfahren?

Wie sollte Ihrer Meinung nach mit den Urteilen nach dem §175 umgegangen werden?
Eine individuelle Entschädigung ist sicherlich in einer begrenzten Zahl möglich – und dann auch wünschenswert. Für viel wichtiger aber halte ich eine Entschädigung in Form einer Rehabilitierung aller Verfolgter und daraus folgend eine Unterstützung schwuler Institutionen, in Hamburg fallen mir da zum Beispiel Hein & Fiete und das Magnus-Hirschfeld-Centrum ein. Die berlin-zentrierte Magnus-Hirschfeld-Bundesstiftung sollte aber nicht der Verteiler einer Entschädigung werden.

Herzlichen Dank für dieses spannende Gespräch!