Sinti und Roma in Hamburg:
„Unsere Anwesenheit hat immer gestört“

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Hamburger Sinti-Familie in den 50er Jahren auf dem Platz „Alte Fähre“, Harburg

Wie erging es den Sinti und Roma nach 1945? Unsere Mitarbeiterin Surya Stülpe hat mit Inge Weiss, Hamburger Sintezza und Leiterin der Beratungsstelle des Landesvereins der Sinti in Hamburg, über ihre Familiengeschichte, die Bürgerrechtsbewegung und die Kultur der Sinti gesprochen. Ihr Wunsch: Ein Staatsvertrag mit der Stadt Hamburg – und ein Leben ohne Diskriminierung.

Inge-Weiß-300x200 Wie hat deine Familie gelebt, als du ein Kind warst?
Weiss: Geboren bin ich in Uelzen. Aber meine Familie hat dann in Hamburg gelebt. Als fahrende Händler waren wir viel auf dem Land unterwegs, denn in den Städten hatten die Leute schon Kaufhäuser. Ab den 60er Jahren waren wir als Schausteller auf Jahrmärkten dann ganzjährig unterwegs.

Gab es einen Moment, an dem du wahrgenommen hast, dass du von den anderen als „anders“ wahrgenommen wurdest?
Weiss: Als man jung war, lebte man noch unter dem Schutz der Familie. Aber sowie man in die Schule kam, hat man das gemerkt. Das war extrem. In den ersten Klassen waren das eher die Eltern. Die wollten einen nicht zu Hause haben. Man wurde selbst von Freunden nie zum Kindergeburtstag eingeladen. Man wächst damit auf und verarbeitet das eigentlich nie. Das ist so, dass man sich dann zurückzieht und unter den eigenen Leuten bleibt. Das wird einem aber auch angekreidet. Da heißt es: „Die wollen ja nicht.“ Bis heute wollen die meisten aus der Mehrheitsgesellschaft nicht neben Sinti und Roma wohnen! Das sagt doch schon alles! Das ist besonders beängstigend in diesen Zeiten. In den Zeiten von AfD, sag ich mal. Da kommen dann wieder richtig Ängste hoch.

Wo haben die Hamburger Sinti nach 1945 gelebt?
Weiss: Das Eine ist, dass viele sich entschieden haben, nicht mehr als Sinti zu leben. Sie leben überall und geben sich nicht zu erkennen. Das Andere ist, dass die Sinti immer wieder vertrieben wurden. Man ist immer an den Rand der Stadt gedrängt worden. Unser Anblick, unsere Anwesenheit haben immer gestört. Die Familie Weiss war erst am Platz „An der alten Fähre“, an der Elbe. Der Platz war schön. Dann mussten sie in das so genannte „Dreieck“ in Harburg, zwischen Autobahnen und Bahngleisen. Dort war es eng und für alle Familien gab es nur einen Wasserhahn. Doch der Anblick war den Reisenden nicht zuzumuten, also mussten sie wieder weg. Dann sollten wir in den 70er Jahren in die Plattenhäuser in der Kleingartensiedlung in Harburg. Dort hatten vorher Arbeiter der Affi (Anmerkung: norddt. Affinerie, heute Aurubis) gewohnt, die dann in richtige Häuser kamen.

Wie ging es dann weiter?
Weiss: Die Baracken waren ohne Isolierung und ohne jeden Komfort. Die Gärten waren vollständig kontaminiert durch die Abgase der Fabrik. Aber selbst da mussten wir irgendwann weg, weil da eine Tankstelle hin sollte. Die wollten uns in Wohnungen unterbringen, jede Familie für sich. Da haben unsere Ältesten damals gesagt: „Wir gehen nur, wenn wir alle zusammen bleiben und wir genug Platz für unsere Gewerbe haben.“ Dann hat die Stadt in den 80er Jahren die Siedlung am Georgswerder Ring gebaut. Das wurde als Wiedergutmachung an den Sinti deklariert. Da haben sich auch alle gefreut. Aber dann kam der dicke Hammer: Wir sollten bis zu 800 Mark Miete zahlen. Wie kann ein Mensch, der gerade mal diese 30 Mark Miete zahlen konnte für diese Hütten, jetzt zwischen 500 und 800 Mark bezahlen? Dadurch sind ganz viele Sinti sozial abhängig geworden.

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Dann kam ab Anfang der 80er die Bürgerrechtsbewegung der Sinti und Roma …
Weiss: Das war ja ein Teil davon. Dass wir gesagt haben: „Wir wollen nicht mehr so wie ihr wollt! Wir wollen so leben, dass wir unsere Kultur bewahren können!“

Warst du ein Teil dieser Bewegung?
Weiss: Ja, natürlich. Das waren wir alle. Hinter Romani Rose, der damals den Hungerstreik in Dachau gemacht hat, standen wir alle. Wir haben gesagt: „Wir wollen nicht mehr! Wir wehren uns! Wir haben jetzt auch eine Lobby!“ Damals war ich 24 Jahre alt. Ich habe gedacht: „Ich will nicht mehr!“ Die haben unsere Eltern vergast, die haben Kinder umgebracht, weil sie gesagt haben, dass wir alle kriminell sind. Wie können kleine Babys kriminell sein? Wir wollten nicht mehr! Wir wollten auch unsere Rechte haben. Wir wollten unsere Ruhe haben und mit unserer Kultur leben können. Und bitte so akzeptiert werden, wie wir sind.

Jetzt nochmal zu dem, was „zweite Schuld“ genannt wurde. Zu dem Unrecht also, das den Überlebenden im Zuge der so genannten Wiedergutmachung angetan wurde. Da ist ja auch in Hamburg eine Menge Schlimmes passiert. Hast du da etwas von mitbekommen?
Weiss: Alle, die vor 1941 deportiert wurden, bei denen wurde gesagt, dass sie nicht aufgrund von Rassismus deportiert wurden. Die wurden nicht anerkannt. Das war ja das Urteil des Bundesgerichtshofs, der 1956 noch behauptet hat, dass Sinti und Roma nicht aus rassistischen, sondern aus kriminalpräventiven Gründen verfolgt wurden. Pass mal auf, ich hole mal eine Akte. (Sie holt einen alten Antrag auf Wiedergutmachung. Allein die Sprache der Gutachten über die Antrag stellende Person erscheint menschenverachtend.)
Das war sehr schwer für die Leute! Sie mussten sehr viele Papiere erbringen, die sie gar nicht erbringen konnten. So wie der Vater meines Schwagers, der mühselig seine Papiere zusammenbekam, um dann zu erfahren, dass hier im Rathaus die gesamte Akte schon vorlag. Die Sinti sind auch mit ganz wenig Geld abgespeist worden. Viele haben gar nichts bekommen, weil ihnen die Staatsangehörigkeit aberkannt war und ihnen als Staatslose Forderungen unmöglich waren.

1999 hat dein Mann den Landesverein gegründet. Warum?
Weiss: Wir hatten damals einen kleinen Schaustellerbetrieb. Und wir brauchten für ein neues Fahrzeug eine Versicherung. Der Versicherungskonzern hat uns damals abgelehnt mit der Begründung, dass sie Sinti nicht versichern. Hier, das kann ich dir zeigen. (Sie legt ein Schriftstück einer Versicherung vor, auf dem steht, dass grundsätzlich keine Sinti versichert werden.) Das war der Auslöser. Und die Hoffnung, dass das irgendwann mal vorbei ist.

Ich habe aus einem früheren Gespräch mit dir mal herausgehört, dass die Kultur der Sinti auch sehr patriarchal organisiert ist. Ist das so und wenn ja, wie war das für dich?
Weiss: Eigentlich ist es nicht so. Man sagt das zwar so, aber in Wirklichkeit waren mein Mann und ich immer gleichgestellt. Auch in allen wirtschaftlichen und geschäftlichen Belangen. Man sagt, das wird so gemacht wie er sagt, aber im Endeffekt habe ich doch das Meiste entschieden (lacht). Wir hören aber sehr darauf, was die Älteren sagen. Da stellt man sich im Allgemeinen nicht dagegen. Männer nicht und Frauen auch nicht.

Was sind heute eure Forderungen?
Weiss: In Berlin haben sie ja gerade einen Staatsvertrag verhandelt. So etwas möchten wir hier in Hamburg auch gerne erreichen. Dass wenigstens die Beratungsstelle mal abgesichert ist und wir nicht jedes Mal wieder bangen müssen und so viel Zeit in Projektanträge stecken müssen. In Rheinland-Pfalz steht in der Rahmenvereinbarung sogar drin, dass alle Beamten beim Umgang mit Sinti und Roma deren Verfolgungsgeschichte gegenwärtig haben sollen. Das ist gut, so etwas! Dann müssen sich die Behördenmitarbeiter auch mal damit beschäftigen und verstehen unsere Leute.

Was wünschst du dir von deinen Mitmenschen?
Weiss: Dass man uns respektiert, so wie wir sind. Mit unseren Eigenarten. Dass wir gerne in großen Familien zusammenleben, dass wir unsere Alten wertschätzen, dass wir unsere Alten niemals in Altersheime geben würden.

Inge Weiss wurde 1956 in Uelzen in eine Sinti-Familie hineingeboren. Sie heiratete später in die Hamburger Sinti-Familie Weiss ein. Über sich selbst sagt sie: „Wir sind ja nicht viel anders als die Mehrheitsgesellschaft. Ich bin eine Deutsche. Ich bin eine deutsche Sintezza. Ich gehöre einer ethnischen Minderheit an. Ich habe meine Sprache, das ist Romnes und ich möchte, dass ich die ohne Wenn und Aber weiter mit meinen Kindern sprechen kann, ohne diskriminiert zu werden. Ich will ein vernünftiges Leben führen, so wie andere auch!“

Mit der Großen Anfrage „Aufarbeitung der Diskriminierung von Sinti und Roma in Hamburg nach 1945“ (Drs. 21/8004) an den Hamburger Senat hat die Fraktion DIE LINKE in der Hamburgischen Bürgerschaft im Frühjahr 2017 einen kleinen Beitrag zur Verfolgungsgeschichte der Sinti und Roma geleistet. Die Anfrage mit den Antworten des Senats ist einsehbar unter http://buergerschaft-hh.de/ParlDok/dokument/56807/aufarbeitung-der-diskriminierung-von-sinti-und-roma-in-hamburg-nach-1945.pdf.

 

Fotos: Surya Stülpe