Plenarprotokoll 20/82: Situation von älteren Menschen mit Migrationshintergrund in Hamburg

Cansu Özdemir DIE LINKE: Sehr geehrte Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Hamburg ist die Hauptstadt der armen Rentnerinnen und Rentner – traurig, aber leider wahr. Über 18 000 Menschen in Hamburg sind im Alter auf Grundsicherung angewiesen. Und wenn wir uns einmal die Zahlen anschauen, dann sehen wir von 2006 bis 2010 eine Steigerung um 22 Prozent. Noch beunruhigender aber ist, dass die tatsächliche Armutsquote von älteren Menschen einer Studie zufolge erheblich höher sein soll als die tatsächliche Inanspruchnahme. Die Hauptursache für Altersarmut sind niedrige Einkommen, Phasen der Arbeitslosigkeit, aber auch Wandel der Erwerbsbiografien, die schwache Lohnentwicklung und die Veränderung der Rentenformel. All das sind negative Einflussfaktoren, die zur Steigerung der Altersarmut beitragen.

Stark betroffen von Altersarmut sind vor allem ältere Menschen mit Migrationshintergrund; das zeigen die Antworten des Senats auf unsere Große Anfrage zur Situation von älteren Menschen mit Migrationshintergrund in Hamburg. Menschen mit Migrationshintergrund in der Altersklasse ab 55 Jahren sind dreimal so häufig von Armut betroffen wie ältere Menschen, die keinen Migrationshintergrund haben. Dazu noch einmal die Zahlen: Ohne Migrationshintergrund sind rund 10 Prozent betroffen und mit Migrationshintergrund 30 Prozent. Diese Zahlen zeigen deutlich, wie groß das Problem ist. Leider ist es so, dass, obwohl viele der betroffenen Migrantinnen und Migranten seit vielen Jahren, oft schon seit über einer Generation, also seit über 25 Jahren in Deutschland leben und gearbeitet haben, hier also auch viel geleistet haben, von ihrer Rente einfach nicht mehr leben können.

Laut Senatsantwort werden im Jahr 2030 fast jeder dritte Hamburger und jede dritte Hamburgerin 60 Jahre und älter sein. Zwischen den Jahren 2005 und 2025 ist eine Verdoppelung der über 55-jährigen Bevölkerung mit Migrationshintergrund zu erwarten. Die Menschen entscheiden sich, in Deutschland zu bleiben und nicht in ihre Herkunftsländer zurückzukehren. Wir können an den Zahlen sehen, dass das in den nächsten Jahren eine Herausforderung sein wird. Der Senat ignoriert das Problem aber ein bisschen.Ich möchte einmal anfangen mit Ihrem Demografie-Konzept 2030. Da schreiben Sie – ich zitiere –: „Hamburg ist auf den höheren Anteil älterer Menschen gut vorbereitet.“

Ich glaube, dass das nicht so ist, und dieses Demografie-Konzept, von dem ich denke, dass es aus vielen anderen Konzepten zusammengebastelt wurde, kann das schon gar nicht bestätigen. In unserer Großen Anfrage fragen wir den Senat, welche Maßnahmen notwendig beziehungsweise geplant sind, um Einfluss auf die zukünftigen sozioökonomischen Lebensverhältnisse von älteren
Menschen mit Migrationshintergrund nehmen zu können. In seiner Antwort verweist der Senat auf den Sozialbericht 2012 und betont – ich zitiere – „die herausragende Bedeutung von Bildung und beruflicher Qualifikation“. Dass Bildung und berufliche Qualifikation wichtig sind, finden wir auch, aber das ändert nichts an der Situation dieser Gruppe von Menschen, die jetzt betroffen sind. Der Ansatz Bildung und Weiterbildung kommt für sie leider Jahrzehnte zu spät und wird nichts an der Problematik ändern. Sie können ja einmal die ältere 65-jährige Dame fragen, die vor 40 Jahren in Deutschland eingewandert ist, hier hart gearbeitet hat und heute auf Grundsicherung angewiesen ist. Sie wird Ihnen sagen, dass sie mit Bildung und beruflicher Qualifikation jetzt nichts mehr anfangen kann.

(Heike Sudmann DIE LINKE: Nicht so wirklich!)

Die Lebenslagen von älteren Migrantinnen und Migranten müssen differenziert betrachtet werden. Mit Armutsprävention durch Bildung und berufliche Qualifikation können Sie das Problem bei dieser Gruppe nicht mehr lösen. Die Armut existiert, die Probleme sind vorhanden und müssen gezielt bekämpft werden.

(Beifall bei der LINKEN)

Aber der Senat verschließt die Augen, um die Altersarmut in Hamburg nicht zu sehen. Im Sozialbericht 2014 beschönigen Sie die Situation der Lebenslagen in Hamburg. Sie beziehen sich auf die Zahlen bis 2010 und ignorieren die Zahlen von 2011 bis 2013; vielleicht endet für den Senat die Welt im Jahr 2010. Was ich aber noch kritischer finde, ist, dass der Senat in der Pressemitteilung zum Sozialbericht behauptet, dass Hamburg gar nicht die Hauptstadt der Altersarmut sei. Sie sagen, die Armutsgefährdungsquote der Seniorengeneration läge im Jahr 2010 bei 8 Prozent. In der Antwort auf unsere Große Anfrage reden Sie von rund 10 Prozent und erwähnen nicht, dass die Armutsgefährdungsquote bei den älteren Menschen mit Migrationshintergrund bei 30 Prozent liegt. Ehrlich gesagt verstehe ich nicht, wie Sie mit den Zahlen umgehen oder welche Zahlen Ihnen vorliegen.

Deshalb wollten wir das Thema ansprechen und deshalb haben wir einen Antrag eingereicht, in dem wir Maßnahmen fordern, die sich über alle für ältere Menschen relevanten Lebensbereiche erstrecken und dabei die spezifischen Bedürfnisse älterer Migrantinnen und Migranten miteinbeziehen. Wir brauchen in Hamburg einen Masterplan, der eine zentrale Strategie, die Perspektiven älterer Menschen mit Migrationshintergrund betreffend, formuliert. Unter Einbeziehung von Expertinnen und Experten müssen verbindliche Maßnahmen mit zeitlichen Zielvorgaben zu Handlungsfeldern wie zum Beispiel Armutsrisiko, Einkommen, gesundheitliche Versorgung, Pflegebedürftigkeit und Wohnsituation erarbeitet werden. Zeitliche Zielvorgaben sind hier enorm wichtig, denn die Zeit rennt uns davon. Es besteht dringender Handlungsbedarf. Wir müssen so schnell wie möglich gegensteuern.

Interessant war für mich außerdem, dass der Senat in seiner Antwort auf die Große Anfrage die bezirklichen Integrationszentren aufführt, uns aber verschweigt, dass diese total unterfinanziert sindund ums Überleben kämpfen.

(Olaf Ohlsen CDU: Skandal!)

Diese Integrationszentren sind gerade für die älteren Menschen mit Migrationshintergrund eine sehr wichtige Anlaufstelle, weil es dort in vielen verschiedenen Sprachen Informationen und Beratung in den unterschiedlichsten Lebenslagen gibt und weil dort Projekte angekurbelt werden. Deshalb müssen diese Integrationszentren unbedingt gestärkt werden, sie dürfen nicht kurz vorm Verbluten sein.

(Beifall bei der LINKEN)

Noch einmal ganz kurz zu den Migrantenselbstorganisationen, die von Ihnen aufgeführt werden und von denen der Senat selber sagt, dass sie viel für ältere Migrantinnen und Migranten tun, zum Beispiel Gesundheitsberatung. Aber auch hier ist das Problem, dass diese Migrantenselbstorganisationen, die eine so wertvolle Arbeit leisten, um jeden Groschen kämpfen müssen.

(Olaf Ohlsen CDU: Das müssen wir alle!)

Die Gelder, mit denen sie ihre Arbeit finanzieren, beziehen sie ausschließlich von ihren Mitgliedern, und das reicht natürlich längst nicht aus. Ich denke, dass gerade diese ehrenamtliche Arbeit auch gewürdigt werden muss.

(Beifall bei der LINKEN und bei Phyliss Demirel GRÜNE)

Sie sehen, wir haben hier eine Verantwortung. Ich finde es schon einmal gut, dass Sie die Große Anfrage an den Sozialausschuss überweisen möchten,

(Kazim Abaci SPD: So sind wir!)

wo wir weiter über die Probleme sprechen können.

(Beifall bei der LINKEN)

Zweiter Beitrag

Cansu Özdemir DIE LINKE: Erst einmal zu Frau Timmermann: Sie haben in Ihrer Rede die vielen Konzepte, die Sie haben, vorgetragen, aber das reicht leider nicht. Es kommt darauf an, dass Sie
auch handeln. Das Integrationskonzept beinhaltet zum Beispiel keine verbindlichen Ziele und Zeitpläne, also können Sie die dort gesetzten Ziele auch erst in 20 Jahren umsetzen. Daher brauchen Sie sich auf diese Konzepte gar nicht zu berufen.

(Beifall bei der LINKEN)

Dass Sie über den Sozialbericht kein einziges Wort verloren haben, außer, dass wir den im Ausschuss diskutieren werden, finde ich schon ziemlich peinlich.

(Beifall bei der LINKEN – Dirk Kienscherf SPD: Von Peinlichkeit verstehen Sie mehr!)

Dieser Sozialbericht zeigt deutlich, wie Sie die Situation in Hamburg einschätzen möchten. Dann möchte ich noch ein Wort zu Herrn Haufler sagen. Klar, es gibt sehr viele Menschen, die lebenslang gearbeitet haben, und das muss auch gewürdigt werden, aber es gibt auch Menschen, die vielleicht nicht gearbeitet haben oder nicht arbeiten konnten, zum Beispiel aus Krankheitsgründen. Ich finde, auch diese Menschen müssen gewürdigt werden.

(Dirk Kienscherf SPD: Richtig!)

Deshalb verstehe ich nicht, was für eine christliche Anschauung Sie eigentlich haben. So definiere ich das, ehrlich gesagt, nicht.

(Beifall bei der LINKEN)

Nur weil DIE LINKE ein Problem thematisiert, heißt das doch nicht, dass wir eine bestimmte gesellschaftliche Gruppe instrumentalisieren. Ich weiß nicht, wie Sie darauf kommen, aber die CDU ist dafür bekannt, dass sie Probleme nicht thematisiert, sondern einfach wegschaut.

(Beifall bei der LINKEN – Olaf Ohlsen CDU: Jetzt mal sachlich da vorne!)

Dann zu Frau Fegebank und ihren Ausführungen zum Antrag: Wir glauben, dass es wichtig ist, mit Expertinnen und Experten in der Stadt, die sich mit diesem Thema auseinandersetzen, die jeden Tag mit älteren Migrantinnen und Migranten zu tun haben, die anhand ihrer Praxis wirklich besser einschätzen können, was diese Menschen brauchen, eine Strategie auszuarbeiten. Deshalb machen wir diesen Vorschlag. Sie haben ihn natürlich abgelehnt, aber wir haben die Möglichkeit, im Ausschuss noch einmal darüber zu sprechen, wie gehandelt werden kann. Ich sehe hier einfach das Problem, dass wir es, ohne Expertinnen und Experten aus der Stadt einzubeziehen, gar nicht wuppen können. Weder ein Herr Abaci noch ein Herr Haufler und schon gar nicht eine Frau Kaesbach können sagen, welches Problem die ältere Migrantin aus der Nachbarschaft hat.

(Zurufe von der SPD und der CDU)

Ich komme zu Ihrer Rede, Frau Kaesbach.

(Dr. Roland Heintze CDU: Schön, dass Sie das wissen!)

Dass Sie einfach hier auftreten und das Integrationskonzept sozusagen schon auswendig gelernt uns vortragen, finde ich bereits peinlich, 

(Dr. Roland Heintze CDU: Sie können ja nur eine andere Meinung nicht ertragen!)

aber wenn Sie dann auch noch auf die vielen Angebote in den Bezirken und Stadtteilen verweisen, dann glaube ich einfach, dass Sie diese Angebote und Anlaufstellen noch nie besucht haben und noch nie mit den Menschen im Gespräch waren, denn wenn Sie das getan hätten, dann würden Sie wissen, dass diese Angebote unterfinanziert sind und gestärkt werden müssen; aber das hatten Sie anscheinend nicht auf dem Schirm.

(Beifall bei der LINKEN – Dr. Roland Heintze CDU: Schön, dass Sie den Kollegen ihr Engagement in Abrede stellen!)

Dass wir alle als arm und hilfebedürftig abstempeln, stimmt gar nicht, aber hier sind einfach Zahlen, die deutlich machen, in welchen Lebenslagen sich ältere Menschen mit Migrationshintergrund befinden.

(Beifall bei der LINKEN – Olaf Ohlsen CDU: Das haben wir doch alles schon gehört!)

– Dann hören Sie noch einmal zu. Vielleicht können Sie sich das dann irgendwann merken. Diese Zahlen müssen Sie wirklich ernst nehmen, denn wenn eine Verdoppelung in den nächsten
Jahren auf uns zukommt, dann werden wir ein gewaltiges Problem bekommen. Ich weiß nicht, ob Sie sich dann noch einmal hier hinstellen und die Arme schütteln können und sagen: Oh, es gibt ein Problem, wir können es doch wieder ignorieren und einfach wegschauen. Das wird dann nicht gehen.

(Beifall bei der LINKEN)