Sabine Boeddinghaus im Interview: „Rechte der Kinder und Jugendlichen stärken“

Warum die Enquete-Kommission zur Kinder- und Jugendhilfe in Hamburg so wichtig ist, erklärt Sabine Boeddinghaus, jugendpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE, im Interview.

Frau Boeddinghaus, Hamburg bekommt eine Enquetekommission für die Kinder- und Jugendhilfe. Komisches Wort. Was bedeutet das eigentlich?

Boeddinghaus: In einer Enquete-Kommission analysieren und bewerten Expert_innen und Politiker_innen einen bestimmten Sachverhalt über längere Zeit. Und zwar ohne den Druck aktueller Geschehnisse – in diesem Fall zum Beispiel die bedauerlichen Todesfälle von Kleinkindern in staatlicher Obhut – und jenseits parlamentarischer Notwendigkeiten. Am Ende kann die Kommission der Politik dann Beschlussempfehlungen anbieten, die sie womöglich in Regierungshandeln übersetzen kann.

Kann das nicht auch ein Untersuchungsausschuss?

B: Das Instrument der Enquete-Kommission ist für grundlegende Fragestellungen wesentlich besser als ein Untersuchungsausschuss, weil die Kommission viel tiefer und viel fachlicher arbeiten kann. Das Hamburger Kinder- und Jugendhilfesystem ist sehr komplex und braucht deshalb genau diese gründliche und grundsätzliche Herangehensweise.

Wer arbeitet in dieser Kommission und was genau sind die Aufgaben?

B: In der Kommission werden sowohl Abgeordnete aller Fraktionen als auch von jeder Fraktion benannte Sachverständige sitzen. Beide Seiten sind zahlenmäßig gleichberechtigt vertreten. Der genaue Zeit- und Arbeitsplan wird von den antragstellenden Fraktionen (SPD, Grüne, DIE LINKE und FDP) noch bestimmt.
Nach aktuellem Stand gibt es
viele einzelne Untersuchungsaufträge, die dann innerhalb von zwei Jahren Punkt für Punkt von den Fachexpert_innen beleuchtet und bearbeitet werden. Schwerpunkte sind Jugendämter, Jugendhilfe und der Pflegekinderbereich. Wichtig ist für uns dabei, dass auch die Schnittstellen zu den diversen Bereichen der Jugendhilfe untersucht werden, also zum Beispiel die Offene Kinder- und Jugendarbeit, die Sozialräumlichen Hilfen und Angebote oder der schulische Ganztag. Ebenfalls in den Blick genommen werden an einigen Punkten die Rechte von Kindern, Jugendlichen und ihren Eltern.

Und was soll dabei herauskommen?

6511323383_776f6f3ca5_b B: Das Ziel ist, konkrete Strukturänderungen vorzuschlagen. Damit sollen im Kinder- und Jugendhilfesystem sowohl der Kinderschutz als auch die Rechte von Kindern, Jugendlichen und jungen Volljährigen gestärkt und gesichert werden. Außerdem sollen die Rahmenbedingungen für alle Beteiligten bedarfs- und sachgerechter als bisher gestaltet werden können.

Haben Sie da ein konkretes Beispiel?

B: Klar. Ein Auftrag an die Kommission wird sein, eine Vereinfachung und bessere Übersichtlichkeit der Kontroll- und Dokumentationspflichten auszuarbeiten. Wenn es dadurch zu weniger Dokumentation und Kontrollpflichten kommt, haben die Mitarbeiter_innen wesentlich mehr Zeit für die auf Hilfe angewiesenen Kinder und Jugendlichen und ihre Familien selbst.

Sie haben lange für diese Kommission gekämpft, gemeinsam mit vielen anderen Fachleuten. Warum ist Ihnen das so wichtig?

B: Die vielen negativen Schlagzeilen der letzten Jahre und auch die vielen Fälle, die es nicht in die Medien geschafft haben, zeigen deutlich: Hamburg braucht seit langem eine grundsätzliche Bilanz des bestehenden Kinder- und Jugendhilfesystems. Und eine Neuorientierung dieser so wichtigen Arbeit kann eben nur in einer Enquete-Kommission vorgenommen werden. Denn die Parlamentarischen Untersuchungsausschüsse in der Vergangenheit arbeiteten überwiegend auf individuelle Schuldzuweisungen an einzelne Mitarbeiter_innen in den Jugendämtern hin und beklagten nur die vermeintlich fehlende Umsetzung der Regeln und Vorgaben. Das haben wir immer als völlig unzureichend kritisiert.

Dann ist es ja schon ein Erfolg, auch für DIE LINKE, dass es diese Kommission jetzt geben wird.

7826493056_1e12905011_k B: Absolut. Dass wir diese Chance nun erhalten, haben wir allerdings nur mit jahrelanger intensiver Arbeit erreicht, gemeinsam mit vielen Bündnispartner_innen. Ein Faktor ist aber auch die berechtigte Furcht der Regierungsfraktionen, es könnte bald ein weiterer Untersuchungsausschuss drohen.

Mussten Sie in den Verhandlungen mit den anderen Fraktionen auch Abstriche beim Untersuchungsauftrag machen?

B: Natürlich, so ist das bei Verhandlungen. Es gibt ja einen von uns unterstützten zivilgesellschaftlichen Aufruf, der noch weitere wichtige Forderungen enthält. Themenfelder wie die im Hintergrund stehende Armutsentwicklung und die soziale Spaltung in Hamburg, eine Untersuchung zu den Hilfen zur Erziehung, eine breitere Untersuchung der Jugendhilfe, um eine Beteiligungskultur ausgerichtet an der UN Kinderrechtskonvention zu entwickeln, konnten wir leider nicht oder nur am Rande hineinverhandelt. Auch hätte ich mir eine umfassendere Untersuchung der auswärtigen Unterbringung oder der Ökonomisierung der sozialen Arbeit gewünscht. Das ist schade, aber wir werden diese Themen weiterhin mit unseren Bündnispartnern in der Stadt bewegen.

Was erwarten Sie sich konkret für Hamburgs Kinder und Jugendliche?

B: Ich erwarte ein Ende der ewigen Spirale von zunehmenden Kontroll- und Dokumentationspflichten in den Jugendämtern und eine deutliche Stärkung der Rechte von Kindern und Jugendlichen und ihrer Familien. Außerdem eine deutliche Verbesserung der Arbeitsbedingungen der Sozialpädagog_innen, ob im ASD oder bei den freien Trägern. Insbesondere die Offene Kinder und Jugendarbeit muss wieder ihre Bedeutung als parteiliche, unabhängige und vertrauensvolle Anlaufstelle für die jungen Menschen in ihrem Kiez zurückbekommen und auskömmlich finanziert werden. Aber da sind wir schon im Bereich der politischen Forderungen, die wir dann am Ende aus der Arbeit der Enquete-Kommission ziehen müssen.

Fotos: Karin Desmarowitz / CC by 2.0 Flickr/taz+belly und Martin Abblegen