Das Zwei-Säulen-System der schulischen Bildung am Beispiel Hamburg

Gymnasium und Gerechtigkeit

Das Zwei-Säulen-System der schulischen Bildung am Beispiel Hamburg

Von Hanno Plass

Bildungspolitik ist Klassenpolitik. Punkt. Begründungen finden viel Futter am Wunschbild des traditionellen Gymnasiums, verklärt durch die Kaiserzeit und die Pennäler-Filme der späten 1960er Jahre. Gymnasium wird mit Dünkel und Elitenbildung verbunden. Von dieser Lehranstalt legt der deutsche Bildungskanon beredt Zeugnis ab: Hermann Hesses Figur des Hans Giebenrath aus »Unterm Rad« und die »Schulepisode« des Hanno Buddenbrook.

Jenseits der Verklärung sind es belastbare Daten aus den Kultusministerien selbst, die Aufschluss geben über die gravierende Ungerechtigkeit im Bildungswesen. Dieses spiegelt die soziale und ökonomische Ungleichheit wider und trägt zu deren Reproduktion bei. Die trennende Grundstruktur von Gymnasium, Haupt-, Real-, Gesamt- und Förderschule ist ein zentrales Instrument dafür, Menschen in verschiedene Tätigkeitsfelder hinauszuführen.

Als Begründung für die verschiedenen Schulformen werden in der Regel die unterschiedlichen Begabungen und Fähigkeiten der jungen Menschen angeführt. Diese sind weder naturgesetzlich noch unabänderlich, sondern vielmehr durch Interessen und soziale Herkunft geprägt.

Verringerung der Schulformen bringt nichts

Als ein Mittel gegen die Klassenspaltung im Bildungswesen gilt in der bildungspolitischen Diskussion schon eine Verringerung der Zahl der Schulformen. In mehreren Bundesländern gibt es derartige sogenannte Zwei-Säulen-Modelle schulischer Bildung, neben dem Gymnasium eine weitere Schulform, die die vorherige Mehrfach-Unterteilung aufheben soll. In Bremen die Oberschule, in Schleswig-Holstein die Gemeinschaftsschule, in Hamburg die Stadtteilschule (STS). Wie sie auch heißt, an diesen Schulen können alle Schüler*innen alle Schulabschlüsse erreichen, in insgesamt neun Schuljahren.

Das Gymnasium hingegen sieht mehrheitlich eine nur achtjährige Schulzeit mit dem Hauptziel Abitur vor. Kennzeichen des Gymnasiums sind homogene Lerngruppen und eine erhöhte Leistungsanforderung. Dennoch gilt grundsätzlich das Elternwahlrecht auf welche Schule (Schulform) ein Kind geht; die hergebrachte und faktisch nicht aussagekräftige Schulformempfehlung in der vierten Klasse ist nicht bindend.

Merkmal des Hamburger Modells ist, dass nach zwei Jahren am Gymnasium der Übergang in die siebte Klasse an einen gewissen Notenspiegel gekoppelt ist. Von Schüler*innen, die unter diesem Leistungsniveau bleiben, wird angenommen, sie seien nicht in der Lage, in den folgenden sechs Jahren das Abitur zu erreichen. Sie müssen das Gymnasium verlassen und werden von den Stadtteilschulen aufgenommen. Dieses »Abschulen« ist zentral für eine Trennung der Schüler*innenschaft, die von allen vor liegenden Kennzahlen bestätigt wird: Auch das Zwei-Säulen-Modell mildert die bestehende Bildungsungerechtigkeit nicht etwa, sondern verschärft sie – alle anderen Auffassungen sind Mythen.

Stadtteilschulen werden überproportional belastet

Zweifelsfrei lasst sich dagegen feststellen, dass die STS die »Hauptlast« der Bildung in Hamburg tragen. Sie fordern die vielfältige Schüler*innenschaft die heterogenen Lerngruppen wesentlich starker als die Gymnasien. Zwar werden den STS leicht erhöhte Ressourcen seitens der Hamburger Schulbehörde zugewiesen, doch angesichts der Aufgaben im Sozialraum Schule sind diese nicht nur prinzipiell gerechtfertigt, sondern immer noch zu gering.

Die Aufgabenfülle und die soziale Spaltung der Schullandschaft sind durch die behördeneigenen Daten belegbar: In Hamburg gibt es insgesamt 59 staatliche STS mit insgesamt 65.094 Schüler*innen und 63 staatliche Gymnasien mit 58.738 Schüler*innen. Hamburger Schulen sind mit einem Sozialindex ausgewiesen, der die sozioökonomische Zusammensetzung der Schüler*innenschaft beschreibt.

Dabei bezeichnet Sozialindex 1 eine sozioökonomisch arme Schüler*innenschaft und Sozialindex 6 dementsprechend eine reiche Schüler*innenschaft. Die generelle Armutsquote in Hamburgs Grundschulen beläuft sich laut Erhebungen des Bildungsforschers Marcel Helbig auf 20,6 Prozent.

Unter den Stadtteilschulen verteilen sich die Sozialindexe wie folgt: acht mit Sozialindex 1, 18 mit Sozialindex 2, zwölf mit Sozialindex 3, neun mit Sozialindex 4, zwölf mit Sozialindex 5 – und keine mit Sozialindex 6. Bei den Gymnasien gibt es keine Schule mit Sozialindex 1, dafür 17 mit Sozialindex 6.

Schullandschaft spiegelt soziale Spaltung wider

Diese Ergebnisse überraschen nicht, denn viele STS liegen in armen Stadtteilen, Gymnasien eher in reichen. Betrachtet man die kleinräumliche Sozialstruktur, wie sie im Rahmenprogramm Integrierte Stadtteilentwicklung (RISE) erhoben wird, so kommen im jetzigen Schuljahr 30 Prozent der STS-Schuler*innen aus einem Gebiet mit niedrigem und sehr niedrigem, 58,3 Prozent aus einem Gebiet mit mittlerem und nur 8,7 Prozent aus einem Gebiet mit hohem RISE-Status. Zur Verdeutlichung: Bei Gymnasien kommt zwar auch die Mehrheit der Schüler*innen, 59,4 Prozent aus einem RISE-Gebiet mit mittlerem Status, doch nur 10,5 Prozent aus Gebieten mit niedrigem und sehr niedrigem und demgegenüber 27,4 Prozent aus einem Gebiet mit hohem Status.

Ähnlich spiegelbildlich ist das Verhältnis der Schüler*innen mit sogenanntem Migrationshintergrund. Am Gymnasium sind es im gerade zu Ende gehenden Schuljahr 40,8 Prozent mit und 59 Prozent ohne, in den STS haben dagegen 60,4 Prozent der Schüler*innen einen Migrationshintergrund und 39,1 Prozent nicht.

Besonders eklatant fällt der Unterschied beim Anteil der Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf an der Gesamtschüler*innenschaft aus. An den STS liegt er zwischen 8,6 Prozent {2019/20) und 8 Prozent (2021/22), wohingegen durchgehend nur 0,5 Prozent der Gymnasialschüler*innen diesen Förderbedarf haben. Ähnlich deutlich klafft die Lücke zwischen den Schulformen im Bereich der Sprachforderung ab Sekundarstufe I. Dort liegt das Gymnasium in den letzten drei Schuljahren bei rund 5 Prozent, die STS wiederum bei rund 15 Prozent.

„Abschulen“ belastet Stadtteilschulen zusätzlich

Der entscheidende Punkt an dem sich die Bildungsungleichheit zwischen den beiden Hamburger Schulformen zementiert, ist der Zwang, Schüler* innen nach Klasse 6 vom Gymnasium auf die STS zu verweisen, das »Abschulen«. Vor der Corona-Pandemie traf das jedes Jahr fast 1.000 Schüler*innen. Die Abschulungen führen dazu, dass an den STS bisweilen ganze Klassen mit neuen Schüler*innen eingerichtet werden, die nach dieser Negativerfahrung erst einmal wieder aufgerichtet werden müssen. Außerdem finden sich deshalb an vielen STS mehr Schüler*innen in Klasse 7, als es vom Schulgesetz als Höchstgrenze festlegt ist. »Abschulen« bewirkt also eine systematische Verletzung des Schulgesetzes.

Parallel zur ungleichen Zusammensetzung der Schüler:innenschaft verstärken Mängel im Schulwesen die Ungleichheit: An Hamburger STS fehlen insgesamt 264 Lehrkräfte, pro Schule durchschnittlich 2,67; an den Gymnasien fehlen hingegen nur 52 Lehrkräfte, durchschnittlich 0,83.

Angesichts der vielfältigen Aufgaben. die die STS neben der Stoffvermittlung zu bewältigen haben. sind ihre pädagogischen und sozialen Leistungen ein voller Erfolg. Er zeigt sich auch an der Quote der STS-Schüler*innen, die trotz der fehlenden Gymnasialempfehlung in Klasse 4 das Abitur schaffen: im Schuljahr 2021/22 waren es 83 Prozent der Abiturient*innen.

Vorschlag: Stadtteilschule zur Regelschule machen!

Auch deshalb hat die Linksfraktion in der Hamburger Bürgerschaft gefordert, die STS zur Regelschule zu machen und die Gymnasien in den Stand zu setzen, alle Schüler*innen zu behalten. Damit wurden die STS von der Aufgabe entlastet, die frustrierten »abgeschulten« Schüler:innen wieder aufbauen zu müssen, und die Gymnasien konnten selbst mehr Verantwortung für ihre Schüler*innen wahrnehmen, statt weiter vom Schulgesetz zur Auslese gezwungen zu werden.

Dach jenseits der Fähigkeiten und der Forderung der Schüler:innen bleibt der Schulabschluss eine soziale Frage. Es ist ein Mythos, dass selbst die Lernleistungen von Kindern und Jugendlichen innerhalb einer Alterskohorte um mehrere Jahre differieren können, entscheidend sind vielmehr materielle Faktoren wie Nachhilfe, Freizeit ein eigenes Zimmer und Lernräume. Im Fernunterricht waren bekanntermaßen die individuelle Ausstattung mit einem Laptop oder Tablet sowie in den jüngeren Jahrgängen die Begleitung der Schulaufgaben durch die Eltern maßgeblich – dazu mussten diese Zeit und Fähigkeit haben.

Die Grenzen dessen, was schulische Bildung an Ungerechtigkeit auffangen und korrigieren kann, sind also offensichtlich: Die außerschulische gesellschaftliche Ungleichheit findet sich in Ausbildungs- und Einkommensungleichheiten wieder. Ein Kreis schließt sich. Wege aus dem Kreislauf der Bildungsungerechtigkeit fänden sich erst, wenn alle Schulen, ungeachtet ihres Namens, dem Recht auf Bildung und Teilhabe, das aufgrund von UN-Konventionen, die die Bundesrepublik ratifiziert hat, Rechtsgültigkeit besitzt, vollumfänglich nachkämen und schulische Bildung von den materiellen Bedingungen des Elternhauses wirklich entkoppelt werden wurde.

Schule ganz neu denken!

Nötig wäre es dafür, das Wohl des Kindes und seine Rechte in den Mittelpunkt zu stellen; das hatte eine Abkehr von der Orientierung an (inter)nationalen Vergleichsmessungen zur Folge. Für Bildungsgerechtigkeit zu arbeiten hieße auch, einen rhythmisierten Ganztag einzurichten, in dem der Schematismus von Schule vormittags und Betreuung nachmittags aufgehoben ist, da Lernprozesse dringend auch Ruhephasen erfordern. Zudem muss Schulentwicklung in den Stadtteilen stattfinden: Die Schulen müssen gemeinsam ihr Bildungsangebot planen, Schulen müssen sich als Institutionen in die Stadtteile öffnen, da sie neben Lernorten auch soziale Räume sind. Das erfordert bauliche Maßnahmen, mehr Personal, multiprofessionelle Teams aus verschiedenen Professionen und eine Weiterentwicklung des Lehr- und Bildungsauftrags der Schulen und der Pädagog*innen.

Aber derartige, im Hier und Jetzt denk- und bezahlbare Zukunftsmusik findet wenig Resonanz. Stattdessen legt die Verengung des ersten schulischen Bildungswegs durch Zugangsbeschränkungen beziehungsweise die Abwertung des zweiten Bildungswegs sowie der Fort- und Weiterbildung Menschen maßgeblich auf ihre einmal erreichten Abschlüsse fest. Bildung verkommt so zu einem funktionalen Mittel auf dem und für den Arbeitsmarkt. Die humane Bildung, die weit darüber hinausreicht, wird weiter vernachlässigt.

Die gesellschaftliche Spaltung und der verschärfte Kulturkampf von rechts verengen die Spielräume für eine fortschrittliche Bildungspolitik. Und selbst wenn an dieser Stellschraube gedreht wurde, würden die Schüler*innen in eine ungleiche, ungerechte Klassengesellschaft entlassen werden. Dabei kommen die Folgen der Corona-Krise und der unverantwortlichen Schulschließungen, die durch alternative Unterrichtskonzepte hätten verhindert werden können, gerade erst in den Schulen an. Sie treffen auf ein seit Jahren unterfinanziertes, ineffektives und marodes Bildungswesen, dessen Grundzüge aus dem Kaiserreich stammen und das einer demokratischen Gesellschaft nicht genügen kann. Es ist eine Erziehung zur Unmündigkeit und eine Bildung in Ungerechtigkeit.

Hanno Plass ist Historiker und wissenschaftlicher Referent von Sabine Boeddinghaus, MdHB, Fraktion DIE LINKE.. Erschienen in „OXI 09/2023“