Eine abgewürgte Debatte: Zur Volksinitiative G9 an den Gymnasien
Von Sabine Boeddinghaus und Hanno Plass
Die Initiative G9 für Hamburgs Gymnasien hat am 10. September den zweiten Schritt, das Volksbegehren, gestartet und muss nun, um erfolgreich zu sein, binnen drei Wochen 66.000 gültige Unterschriften sammeln. Die Initiative plant per Volksentscheid, parallel zur Bürgerschaftswahl am 2. März 2025, eine Änderung des Hamburgischen Schulgesetzes mit dem Ziel, die Zeit der Oberstufe am Gymnasium von zwei auf drei Jahre zu verlängern. Damit würde die Oberstufe am Gymnasium genauso lang sein wie die Oberstufe der Stadtteilschule (STS).
Die Begründung der Initiative ist, dass der Druck auf Schüler*innen am Gymnasium, besonders durch die Belastungen von Coronapandemie, Krieg und Klimakrise, unter der verkürzten Lernzeit leiden würden. Zudem würden die Hamburger Gymnasiast*innen im Bundesvergleich ungerecht behandelt, seien doch viele Bundesländer mittlerweile zu G9 zurückgekehrt. Zudem enthält der Gesetzesvorschlag der G9-Ini die Wiedereinführung der Möglichkeit der Klassenwiederholung und eine Durchlässigkeit zwischen beiden Schulformen in den Klassenstufen 7 bis 10.
Erhofft hatten wir uns, dass die G9-Ini frischen Wind in die bildungspolitische Diskussion bringen könnte.[1] auch weil durch sie der Schulstrukturfrieden kritisiert wird und damit die Kernherausforderungen und die entsprechenden strukturellen und pädagogischen Gegenmaßnahmen zu Druck, Leistungsstress und Überlastung hätten diskutiert werden können.
Doch leider rief die G9-Initiaitve fundamentalen Widerspruch hervor, in den vorgetragenen Argumenten nachvollziehbar, weil die Verlängerung der Oberstufen-Lernzeit am Gymnasium als Angriff auf die Arbeit der STS gesehen wird, aber im Ton leider ohne Bereitschaft zum Diskurs und Entwicklungsperspektiven. Natürlich begrüßen wir das energische Eintreten für die STS – dort wird länger gemeinsam gelernt, dort wird pädagogisch differenziert gearbeitet, dort wird die Vielfalt der Fähigkeiten und Bedürfnisse der Schüler*innen wertgeschätzt, dort wird individuell bis zum bestmöglichen Abschluss gefördert – und besonders die richtige Forderung der Schüler*innenkammer nach „einer Schule für alle“ erfüllt uns mit großer Zuversicht!
Nichtsdestotrotz sind im Kern alle (nicht nur politische) Parteien in ihren seit Jahren ausgebildeten ideologischen Gräben verblieben. Wer sich für die STS mit all ihren Fähigkeiten und Erfolgen einsetzt, verurteilt die G9-Ini. Diese wiederum erklärt zwar nicht gegen die STS zu sein, doch deren vorgeschlagene Reform des §42 (5) des Hamburgischen Schulgesetzes beendet nicht die Segregation zwischen den beiden Schulformen, sondern schreibt fort, was bisherige Praxis ist: von welchem/r Schüler*in die Zeugniskonferenz annimmt, das Lernziel (Abitur) nicht erreichen zu können, der*die kann nicht nach Klasse 6, in Klasse 11 oder in einer anderen Jahrgangsstufe das Gymnasium besuchen.
Weil die Position der LINKEN immer war, dass die Abschaffung der Abschulung nach Klasse 6 vom Gymnasium auf eine STS Voraussetzung für jede Schulreform sein muss, können wir die G9-Ini nicht unterstützen.[2]
Dass die Schüler*innen auch an den Gymnasien unter dem Druck leiden, von Unsicherheiten und Stress geplagt sind, ist unzweifelhaft. Also muss auch etwas geschehen. Die Schulsenatorin hat, unserer Einschätzung nach auch angesichts des möglichen Erfolgs der G9-Ini, erste Erleichterungen für die Gymnasien angekündigt. Es ist sicher nicht falsch, die schriftlichen und mündlichen Prüfungen für den Ersten Allgemeinbildenden Schulabschluss abzuschaffen, zusätzliche Beratungslehrkräfte dauerhaft einzustellen und die schulischen Selbstkonzepte der Schüler*innen zu stärken. Doch solange das Dogma vermeintlich elitärer gymnasialer Bildung, unterschiedliche Kinder und Jugendliche zielgleich zum Abitur treiben zu wollen, solange stoßen die bestgemeinten Absichten an die gläserne Decke von Dünkel und Ab- und Ausgrenzung!
Die schulische Realität ist auch hier schon weiter, als die überholten Denk- und Handlungsmuster: die Schüler*innen vieler Gymnasien repräsentieren eine vielfältige Gemeinschaft, der die alte Gymnasiallogik („ich unterrichte ein Fach und keinen jungen Menschen“) schon längst nicht mehr gerecht wird. Da sich also etliche Gymnasien bereits auf den Weg einer schüler*innenorientierten Pädagogik gemacht haben, ist die Zeit reif auch für strukturelle Veränderungen an den Gymnasien! Denn unseres Erachtens benötigen ALLE Schüler*innen mehr Zeit, ALLE Schulen müssen ein flexibilisiertes Lernen nach Inhalten und Kompetenzen ermöglichen, ALLE Schulen haben den Auftrag, ihre ihnen anvertrauten Kinder und Jugendlichen zu ermutigen, zu begleiten und zu unterstützen!
Die perfide Konstruktion des Zwei-Säulen-Modells bedingt, dass Änderungen an einer Säule Veränderungen an der anderen mit sich ziehen. Würde das Argument der Gegner*innen der G9-Initiative Geltung erhalten und die 7.095 Schüler*innen aus dem 10. Jahrgang der staatlichen Gymnasien allesamt in die gymnasiale Oberstufe des STS gewechselt sein, hätte sich die Oberstufe der STS fast verdoppelt. Ein Ding der Unmöglichkeit, pädagogisch, strukturell, räumlich und wahrscheinlich auch organisatorisch.
Auch dieser Punkt spricht für den einzigen gangbaren Weg: die Gymnasien müssen sich weiterentwickeln. Sie müssen vollumfänglich Verantwortung für ihre Schüler*innen übernehmen![3]
In allen Schulen, sowohl Gymnasium wie STS, müssen die Lernzeiten flexibilisiert und damit den Schüler*innen das Lernen im eigenen Takt ermöglicht werden. Alle Schulen müssen die Inklusion leisten, vollumfänglich und ohne Wenn und Aber. Und ebenso müssen alle Schulen ihren Beitrag zur Integration von geflüchteten jungen Menschen leisten, nicht nur durch Basis- und IV-Klassen (bestenfalls durch ein inklusives, nicht exklusives Konzept), sondern durch die Förderung über den gesamten Bildungsweg. Auch hier haben sich einige Gymnasien schon auf den Weg gemacht!
Offensichtlich ist, dass es Bewegung in der Bildungspolitik gibt. Offensichtlich ist auch, dass die starren Grenzen zwischen den Schulformen punktuell aufweichen. Wir sehen, dass die G9-Ini dazu beigetragen hat, es fehlt aber eben der politische Wille, eine gemeinsame bildungspolitische Debatte über die notwendigen Reformen der Schulstruktur zu führen – über den Unsinn der Segregation in äußerlich unterschiedene Schulformen und der Konkurrenz der Schulen untereinander. Denn Bildung muss im Sinne der Kinder und Jugendlichen ausgerichtet und Schulen müssen nach ihren Bedürfnissen ausgestaltet werden!
[1] https://www.die-linke-hamburg.de/index.php?id=&no_cache=1&tx_news_pi1=107406&tx_news_pi1=News&tx_news_pi1=detail
[2] https://www.die-linke-hamburg.de/index.php?id=&no_cache=1&tx_news_pi1=107556&tx_news_pi1=News&tx_news_pi1=detail
[3] Die Linke Fraktion Hamburg | Bildung Pressemeldungen Pressemitteilungen Sabine Boeddinghaus | Die gesellschaftliche Vielfalt ist in den Gymnasien angekommen – sie müssen sich weiterentwickeln! (linksfraktion-hamburg.de)
Dieser Artikel wurde veröffentlicht im Bürger*innenbrief September 2024 von Heike Sudmann und Sabine Boeddinghaus. Alle Bürger*innnebriefe finden Sie hier.