„Es hat sich gelohnt“
Christiane Schneider, Kersten Artus und Joachim Bischoff gehörten 2008 zu den ersten Abgeordneten der Linksfraktion in der Hamburgischen Bürgerschaft. Ein Gespräch über Revolution, Respekt und Realpolitik.
Backbord: Als es damals losging: Hättet Ihr gedacht, dass es 15 Jahre später noch eine Linksfraktion gibt?
Artus: Auf jeden Fall. Wir waren gekommen, um zu bleiben! Wir waren von vielen Menschen gewählt worden, und ich war überzeugt, dass wir eine Arbeit machen können, die ankommt und begeistert.
Schneider: Ich glaube, ich habe mir darüber überhaupt keine Gedanken gemacht. Ich dachte, wir müssen jetzt vier Jahre richtig gut arbiten. Alles andere hat sich dann ergeben.
Bischoff: Ich habe das anders eingeschätzt. DIE LINKE war ja noch sehr jung. Wir hatten von Anfang an mit inneren Widersprüchen zu kämpfen. Wir waren keineswegs intern homogen.
Backbord: Von außen sah das aber ganz anders aus.
Artus: Wir haben uns direkt in die Arbeit gestürzt und unsere Wahlaussagen thematisch eingebracht.
Schneider: Natürlich hat es manchmal geknirscht, und es gab Konflikte. Es gab aber auch den ernsthaften Willen, Probleme anzupacken. Ich hatte zum Beispiel die Innenpolitik, da habe ich mich wirklich drauf gestürzt.
Bischoff: Ich erinnere mich noch an deine erste Debatte. Da hat es gleich richtig gerumpelt. Das war ein völlig neuer Ton in der Bürgerschaft.
Schneider: Ich habe den ersten Shitstorm meines Lebens bekommen. Es ging um den Dalai Lama. Ich hatte damals gesagt, es sei keine gute Idee, dass ein Religionsführer gleichzeitig Staatsführer ist. Die Rede war eigentlich gar nicht schlecht, aber die Bürgerschaft war dafür der falsche Ort. Die SPD hat massenhaft den Saal verlassen und ich habe noch monatelang Zwischenrufe bekommen.
Backbord: War das auch eine Strategie? Ein bisschen Krawall machen und so für Öffentlichkeit sorgen?
Artus: Unser Anspruch war, linke Themen zu setzen. Die Fraktion war unglaublich fleißig, sowohl im Schreiben von Anträgen und Anfragen, wie auch Außerparlamentarisch. Fast jede Presseerklärung kam im ersten Jahr in die Presse – auch, weil wir neu waren. Wir waren an uns selbst anspruchsvoll und ehrgeizig. Wir waren ständig auf Versammlungen, ich bin zu fast jedem Streik gegangen. Das waren gute Konflikte, weil sie die Leute zum Nachdenken gebracht haben. Der Streik bei Neupack zum Beispiel, dem Joghurtbecher-Hersteller. Dabei ging es auch um die Schikanen gegen Murat Günes, dem Betriebsratsvorsitzenden. Da haben wir eine Resolution initiiert, die SPD und Grüne mit unterstützt haben. Und wir haben die Belegschaft zum Streik-Frühstück ins Rathaus eingeladen und eine Bundesratsinitiative initiiert, damit Zeitarbeitsfirmen nicht mehr als Streikbrecher:innen eingesetzt werden können.
Backbord: Welches waren Eure wichtigsten Themen?
Bischoff: Die lagen auf der Straße. Die große Finanzkrise des Kapitalismus 2008 hatte auch in Hamburg Spuren hinterlassen, z.B. die Krise der Schifffahrt, die HSH Nordbank. Aber auch die Kostenexplosion der Elbphilharmonie und die Austeritätspolitik. Damals regierte Ole von Beust von der CDU. Der liberale Politikstil ging mit rigoroser Privatisierung öffentlichen Eigentums (Krankenhäuser, Immobilenbesitz) und umfangreicher Korruption einher. Die Aufklärung und Untersuchungsausschüsse erforderten großen Einsatz.
Schneider: Als wir erst mal drin waren, sind wir auf immer neue Themen gestoßen. Zum Beispiel auf die Tatsache, dass es Gefahrengebiete gibt. Das hatten wir vorher noch nie gehört. Und ich glaube, außerhalb der Innenbehörde auch sonst niemand. Wir haben das dann zu einem großen Thema gemacht. Mit dem Erfolg, dass das Jahre später zwar nicht abgeschafft, aber immerhin umbenannt und reduziert worden ist.
Artus: Die privatisierten Krankenhäuser waren auch ein Riesenthema. Immer wieder haben wir darauf hingewiesen, dass der Senat die verscherbelt hat. Und dass die zurückgekauft werden müssen. Aber auch die Finanzierung der Frauenhäuser oder die Forderung, den 8. März zum Feiertag zu machen. Damit haben wir viele gleichstellungspolitischen Themen setzen können, SPD und (damals noch) GAL konnten den Antrag nicht einfach wegstimmen.
Backbord: Wie haben euch die etablierten Parteien und Abgeordneten aufgenommen?
Artus: Wir mussten uns den Respekt der anderen mühsam erarbeiten. Natürlich waren wir ja auch Konkurrenz.
Bischoff: Ich habe die Situation als weitgehend intolerant, zum Teil ideologisch verblendet empfunden. Die herrschende Schicht in der Stadt, aber auch der Großteil der SPD folgte der neoliberalen Sparpolitik und war gegenüber kritischen Reformen feindselig eingestellt.
Backbord: Wie seid Ihr damit klargekommen?
Schneider: Ich habe nach einiger Zeit festgestellt, dass das oft auch Theater ist. Mir ist einmal passiert, dass ich einem Abgeordneten, so ein wilder Schreier, der ständig ‚geh doch nach Peking‘ oder so was gerufen hat, nach irgendeiner Rede auf dem Flur begegnet bin. Ich wollte mir gerade einen Kaffee holen und da hat er gesagt: ‚Frau Schneider, kann ich Sie einladen?‘ Irgendwie ist es ja auch, wenn man da so Stunde um Stunde verbringt, so eine Art Notgemeinschaft. Man sitzt sich da nach drei Tagen Haushaltsberatungen gegenüber, alle sind müde und man sieht den anderen in die Augen, und sieht, die sind auch müde. Da muss man schon aufpassen, dass man nicht sozusagen vereinnahmt wird.
Backbord: Ihr hattet ja alle eine lange außerparlamentarische Vorgeschichte. Wie ist das, wenn man dann auf einmal Parlamentspolitik macht? War das eine große Umstellung?
Artus: Für mich war das eine völlig neue Welt, ich hatte von öffentlicher Verwaltung keine Ahnung. Was ist Selbstbefassung? Was ist Evaluation? Was ist ein Petitum? Oder wie man in einer Ausschusssitzung einen Antrag einbringt.
Bischoff: Dazu kam die Untersuchungsausschuss-Arbeit. Der Elbphilharmonie-Ausschuss, der war oben in der Besenkammer im Rathaus, wo man eigentlich gar nicht arbeiten kann. Auch die Verwaltung war nicht gerade freundlich gegenüber unserer Aufklärungsarbeit. Und wie dreist der Senator Freytag damals die absehbaren Folgen der internationalen Finanzkrise bestritten hat. Die offensichtliche Inkompetenz mündete schließlich in seinem Rücktritt. Aber die Irreführung von Öffentlichkeit und der Bürgerschaft musste mühselig belegt werden: Dass sich der Senator die Realität zurechtbiegt , darf man ja nicht einfach behaupten. Das muss man belegen.
Backbord: Hat das auch Spaß gemacht?
Schneider: Ich weiß noch, dass ich in der ersten Legislaturperiode jeden Sonntag freiwillig zur Arbeit gegangen bin. Ich konnte überhaupt nicht aufhören. Weil man auch gemerkt hat: Wenn man gut vorbereitet ist, kann man den Senat wirklich in die Enge treiben.
Artus: Es war ein 24/7-Job und das hat auch Spaß gemacht. Aber es war auch eine völlige Überforderung. Ich hatte bald einen totalen Zusammenbruch, wurde krank.
Backbord: Wie seid Ihr damit klargekommen, dass jeder Eurer Anträge abgelehnt worden ist?
Bischoff: Es gab ja immer auch eine Diskussion um die Tatbestände und Reformvorschläge. Und die konnte sehr produktiv sein.
Schneider: Jeder gute Antrag hat was verändert. Es war gar nicht so selten, dass wir einen Antrag gemacht haben, der abgelehnt wurde. Und die SPD ein halbes Jahr später mit einem ähnlichen Antrag kam – und auf einmal ging es dann doch. Zum Beispiel die Kennzeichnungspflicht von Polizeibeamten. Den Antrag habe ich insgesamt viermal gestellt und keiner ist durchgekommen. Sie haben dann einen eigenen Antrag gemacht. Zwar nicht so gut wie unserer. Aber dass das so verabschiedet worden ist, das war mindestens 50-60 % unser Erfolg.
Bischoff: Aber nicht, weil der Antrag genial war. Sondern weil wir Reformen forderten und konkrete Alternativen präsentierten.
Schneider: Man muss hartnäckig sein und auch dann ist es kein Selbstläufer, stimmt. Aber nach diesem Muster ist es mehr oder weniger auf allen Feldern, wo wir wichtige Punkte erwischt haben, immer wieder passiert.
Backbord: Ihr habt trotzdem viel Gegenwind bekommen, auch aus der eigenen Partei. Die da im Parlament, die sitzen da rum…
Schneider: …und passen sich immer mehr an. Und verdienen viel zu viel Geld.
Bischoff: Die Abgeordneten in der Bürgerschaft sind ja arme Hunde, gemessen an dem, was sonst so an Diäten und so ausgeschüttet wird. Ich kann nur sagen, dass mit dem, was man da als Entschädigung bekommen hat, keine Existenzsicherung möglich war. Die Aufwandsentschädigung war eine Unterbezahlung, wenn man die Aufgaben eines Bürgerschaftsabgeordneten ernst nahm.
Artus: Wir haben damals zweieinhalbtausend Euro gekriegt. Trotzdem hat es Leute gegeben, für die war das auch noch zu viel und die haben gesagt, alle dürfen maximal 1.000 Euro verdienen oder müssen alles abführen. Ich hatte wegen des Mandats aber etliches an Gehaltsabzügen und irgendwie muss man ja auch Miete zahlen oder hat Familie. Diese Querschüsse aus der Partei waren auch belastend.
Backbord: Hat Euch das Parlament denn politisch verändert?
Artus: Ich habe viel gelernt. Ich habe neue politische Instrumente an die Hand bekommen. Ich habe die Stadt besser kennengelernt, wie sie tickt, bin von der Phraseologie runtergekommen. Im Parlament musst du gute Argumente haben, sonst hört niemand zu. Das hat mich zum Positiven verändert.
Schneider: Ich habe gelernt, dass wir eine Demokratie brauchen, in der es unterschiedliche Meinungen geben muss und die sich auch parteimäßig organisieren. Ich habe die Debatten geschätzt, in denen der politische Gegner Argumente hat. Das kommt gar nicht so oft vor, aber es kommt vor. Es gab Debatten, wo ich rausgegangen bin und dachte, da habe ich was gelernt.
Bischoff: Das ist mir jetzt ein bisschen viel Schönwetter.
Schneider: Nein, das finde ich nicht. Das war für mich wirklich eine Lehre.
Bischoff: Ich will die Lernprozesse nicht in Abrede stellen. Nur war der politische Alltag nicht durch einen Wettstreit der Konzeptionen geprägt. Es gibt sie ja, gute Leute in allen Fraktionen, selbst in der CDU. Aber es war zum Teil auch skrupellos, wie die mit einem umgegangen sind. Mir wurde beispielsweise unterstellt, ich hätte durch Veröffentlichung von Unterlagen aus dem HSH-Untersuchungsausschuss Geschäftsgeheimnisse der Bank publik gemacht. Die Absicht, mich aus dem Ausschuss zu entfernen, scheiterte letztlich. Aber die Hasskampagne hatte mit Kontroverse oder schonungsloser Auseinandersetzung nichts mehr zu tun.
Schneider: Stimmt, das gab es auch. Die haben einen teilweise auch wirklich mit Hass, also mit Vernichtungswillen, verfolgt.
Artus: Wir wurden nicht geschont und einige waren auch skrupellos. Und trotzdem hattest du plötzlich eine Bühne, wo dir zugehört wurde. Ich hatte eigentlich zum ersten Mal in meinem Leben das Gefühl, für meine politische Arbeit eine Form von Anerkennung zu finden. Weil da plötzlich auf Argumente eingegangen wird. Sie müssen dir zuhören, du hast Redezeit, Öffentlichkeit, wirst in der Presse zitiert! Das war für mich eine neue Erfahrung, weil ich mich vorher immer nur in Minderheiten bewegt hatte.
Backbord: Hättet Ihr gerne mal regiert?
Schneider: Ich persönlich nicht. Es wurde mir ja unterstellt, ich würde gerne Innensenatorin werden, aber das stimmt nicht. Die grundsätzliche Ablehnung, in die Regierung zu gehen, fand ich trotzdem immer grundfalsch. Das bedeutet ja, dass man die Leute, die auf tiefgreifende Veränderungen hoffen, immer vertrösten muss, so nach dem Motto ‚Das Himmelreich kommt noch, da müsst ihr erst mal sterben‘. Es ist doch Irrsinn anzunehmen, dass wir irgendwann mal mehr als 50 Prozent bekommen. Man kann in der Opposition viel bewirken. In der Regierung kann man aber, dafür gibt es ja auch gute Beispiele, noch viel direkter gestalten.
Bischoff: Ich bin grundsätzlich immer – wenn es politisch möglich ist – fürs Mitregieren. Wir hatten die realistischeren Ideen und Konzeptionen. Aber eine Regierungsbeteiligung bringt nicht im Selbstlauf eine Verbesserung der Arbeits- und Lebensverhältnisse. Kontrolle und Kritik sind wesentliche Grundlagen im Parlament. Letztlich geht es um die Veränderung der Verhältnisse, auch wenn dies zunächst nur kleine Schritte sind.
Artus: Wenn man von vornherein sagt, wir wollen nie regieren, gibt man ein Druckmittel auf, und das finde ich fatal. Ich weiß nicht, ob ich persönlich gerne mitregiert hätte. Ich habe es in Bremen erlebt. Da habe ich zu Beginn der Pandemie für die linke Gesundheitssenatorin gearbeitet und saß mit im Krisenstab. Und da habe ich mitbekommen, du kannst zwar Senatorin sein, aber du hast auch eine Behörde, und der ist dann fast egal, wer oben als Senatorin sitzt. Und selbst wenn du dir drei, vier Leute mitbringen kannst, hast du es eben trotzdem mit einem Apparat zu tun. Da kannst du nicht mal eben sagen ‚zack, und jetzt machen wir dies und das‘. Meine Erkenntnis: Du brauchst erst mal eine Partei, die stärker verankert ist. Und noch mehr Anerkennung in der Stadt. Mit 5-6 % würde ich das für schwierig halten.
Backbord: Glaubst du, DIE LINKE ist weiterhin erforderlich oder notwendig?
Bischoff: Eine moderne sozialistische Partei ist meines Erachtens unverzichtbar! Wir müssen den Kapitalismus nüchtern einschätzen, auch sehen, wie er verändert und modernisiert worden ist. Trotzdem: soziale Ungleichheit, Alters- und Kinderarmut dauerhaft zurückzudrängen und zu bekämpfen, das ist meines Erachtens nur mit einer linken Kraft möglich. Auch die sozialökologische Transformation bei gleichzeitiger Berücksichtigung der Interessen der Mehrheit der Bevölkerung und ihrer Beteiligung bedingt eine sozialistische Partei. Seit 40 Jahren sehen wir eine sogenannte Prosperitätskonstellation des bundesdeutschen Kapitalismus und müssen eine hohe Armutsrate und enorme ökologische Fehlentwicklungen konstatieren – das ist einfach skandalös und zugleich ein vernichtendes Urteil über die Gestaltung durch die etablierten Parteien. Leider sind die linken, sozialistischen Kräfte in Europa im Moment zersplittert, teilweise konzeptionslos und auch zu undiszipliniert, um die soziale Emanzipation voranzubringen.
Schneider: Mir graust es richtig vor dem Gedanken, dass die Rechte immer stärker wird und die Linke quasi in die Bedeutungslosigkeit verschwindet. Das ist ja nicht nur unser Problem als Partei, es ist die gesellschaftliche Linke insgesamt, die sich im Moment sehr schwertut. Es ist unwahrscheinlich wichtig, dass DIE LINKE in den Parlamenten vertreten ist und dass sie eine reale Kraft ist, die vor Ort erlebbar ist.
Artus: Für mich ist tatsächlich Frage, was für eine LINKE brauchen wir? Die Situation in der Partei ist gerade sehr kompliziert. Durch die Pandemie, aber auch durch den Ukraine-Krieg, trennt sich gerade was – in der Deutungshoheit in den Auffassungen. Wir brauchen eine LINKE, die ökonomische und ökologische Zusammenhänge erklären kann, ‚wie hängt Arm und Reich zusammen?‘, und die die Menschen eint.