Laut werden gegen Faschisten: Zum Tod von Esther Bejarano
„Wenn die Regierung nichts gegen die Nazis tut, dann müssen wir das tun. Wir dürfen nicht schweigen!“
Esther Bejarano
Die Mörder mochten es verträumt: „Bei mir bist Du schön, Bel Ami“ wollten sie hören. Damals, in Auschwitz. Und weil Esther Bejerano die Akkorde dieses trivialen Schlagers auf dem Akkordeon spielen konnte, durfte sie leben. Durfte sie überleben. Wurde eine „Überlebende von Auschwitz“, wurde die aus dem Mädchenorchester. Wurde zu einer klugen und gewitzten Widerständlerin gegen alle Formen von Hass und Unterdrückung.
Noch im vergangenen Jahr sang Esther Bejerano diesen trivialen „Bel Ami“-Schlager in jedem Konzert. Als Triumph. Denn sie hatte überlebt, sie war der Mordmaschine Auschwitz entkommen. Sie wusste, was dort passiert war. Sie hatte ihre eigenen Bilder für den Horror. Und sie wusste, wie die Typen tickten, die diese Maschine entworfen hatten und sie nun Tag für Tag mit Opfern fütterten. Und denen sie nun ein für allemal das Handwerk legen wollte. Das ist das Vermächtnis von Esther Bejarano: Der Kampf gegen den Faschismus. Und für eine menschliche Welt.
Geboren wurde sie als „höhere Tochter“ in die Familie eines Kantors aus dem Saarland. Rudolf Loewy lehrte sie Deutschlands Kunst und Kultur. Und er lehrte sie das Klavier. Musik war überall in diesem gutbürgerlichen Hause. Und es war diese Liebe zur Musik, die ihr später das Leben retten sollte. Nach einer Odyssey ihrer Familie und unter dem Eindruck immer brutalerer antisemitischer Übergriffe landete Esther Loewy 1938 in Berlin – und wollte nur noch raus aus diesem Deutschland: Ihr Traum war Palästina, doch der Kriegsbeginn verhinderte ihre Reise. Am 20. April 1943 wurde die junge Jüdin nach Auschwitz deportiert – die brutal überfüllten Viehwaggons, die tagelange Reise, die sterbenden Mitreisenden: Sie war mittendrin. Im Lager bekam sie die Häftlingsnummer 41948 in die Haut tätowiert, musste Steine schleppen – der sichere Weg in den Tod durch Erschöpfung, durch Auszehrung. Bis sie vom Plan hörte, ein Mädchenorchester zu gründen. Das an der Rampe aufspielen sollte, wenn die Todeszüge einrollten. Das am Tor spielen sollte, wenn die Arbeitskommandos ausrückten.
Dass dort nur noch ein Akkordeon fehlte und sie noch niemals ein Akkordeon in der Hand gehalten hatte – egal. Die Jugend im musizierenden Haushalt der Loewys war Lektion genug: Esther Loewy spielte das Akkordeon im Mädchenorchester von Auschwitz. Für die Musikerinnen bedeutete diese Aufgabe besseres Essen und eine Überlebenschance. Doch für die Menschen, die halbtot aus den Viehwaggons fielen, war das zynische Spiel der Nazis mit dem Orchester schwer durchschaubar: „Die winkten uns zu. Sie dachten sicher, wo die Musik spielt, kann es ja nicht so schlimm sein“. Es war noch viel schlimmer. Und Esther Loewy sah das, sah es täglich: Die Leichenberge, die Treibjagden in die Gaskammern.
Esther Loewy stand irgendwann vor dem Lagerarzt Josef Mengele, entkam dessen blutigem Werk. Als „Viertelarierin“ kam sie ein halbes Jahr später ins KZ Ravensbrück. Nach der Räumung des Lagers konnte sie beim folgenden Todesmarsch fliehen, wurde von US-Soldaten in Sicherheit gebracht: „Am 3. Mai 1945 wurde ich zum zweiten Mal geboren.“ Die Eltern und eine Schwester waren ermordet worden, die zweite Schwester lebte in Palästina und so nahm Esther Loewy ihren Plan wieder auf – sie wanderte nach Palästina aus, studierte in Tel Aviv Gesang, arbeitete als Musiklehrerin, lernte dort ihren künftigen Ehemann Nissim Bejarano kennen.
Und kehrte mit ihrer Familie 1960 nach Deutschland zurück. Nach Hamburg – weil die Stadt schön sein sollte und vor allem kühler als das erbarmungslos heiße Israel. Führte eine Wäscherei und eine Boutique. Und begann, all das aufzuarbeiten: Die geschützte Jugend. Den Judenhass der Deutschen. Den Horror der Lager. Die faschistischen Netzwerke der deutschen Nachkriegszeit. Die Neonazis auf der Straße. Esther Bejarano trat der „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten“ (VVN-BdA) bei und gründete das Auschwitz-Komitee. Sie sang mit Franz-Josef Degenhardt, Hannes Wader und Harry Belafonte. Fühlte sich pudelwohl mit der Kölner Microphone Mafia – und schloss einen Pakt mit den Rappern, die ihre Kinder sein konnten. Und von denen einer es später auch wurde. Rappend berichten die aus dem prallen Leben im Hier und Jetzt. Vom Widerstand, vom Aufbegehren, auch von der Liebe. Und Esther Bejerano sang die Strophen, sang „Bella Ciao“, sang jiddische Lieder und Melodien aus Israel. Und sang Schlager wie dieses „Bel Ami“. Weil sie so jeden Abend, in jedem Konzert, die Menschen dran erinnern konnte, dass sie überlebt hatte, dass sie noch da ist. Dass sie immer noch laut werden konnte gegen Faschisten, Rechtsextremisten, „Patrioten“ oder wie auch immer die sich gerade nennen.
Es war diese späte Karriere, die sie berühmt machte: Ihre Auftritte mit der Microphona Mafia, die Lesungen und Filmvorführungen. Diese kleine, mutige und vergnügte Frau redete, wo auch immer man ihr zuhörte. Redete vom Lager und von den Nazis, deren Treiben nie aufgehört hatte. Redete von dem Gift, das Rassismus und Antisemitismus für jede Gesellschaft sind. Redete am liebsten mit Schüler:innen, ganz generell mit jungen Menschen. Und sagte ihnen, dass sie natürlich nicht verantwortlich sind für die Verbrechen, die die Deutschen vor ein paar Jahrzehnten begangen hatten. Dass sie aber sehr wohl dafür verantwortlich sind, aus dieser Katastrophe zu lernen: Wie man lebt, wie man liebt, wie man respektiert. „Ihr müsst alles wissen, was damals geschah. Und warum es geschah!“ Esther Bejaranos Geschichte war immer eine des Lebens, nicht des Sterbens. „Per La Vita“ – so heißt eins ihrer Alben mit der Microphone Mafia. „Mut zum Leben“ ein Film über ihre Geschichte.
Klar: Der Einzug der rechtsradikalen AfD in die Parlamente und die Mordserie des NSU unter der Fittiche des Verfassungsschutzes – das war für Esther Bejerano ein beständiger Dorn. „Der Nazismus und Rassismus wurde in diesem Land auch nach 1945 weder politisch noch gesellschaftlich so konsequent bekämpft, wie er hätte bekämpft werden müssen und können. Er konnte sich auch weiterhin in staatlichen Strukturen festhalten, vor allem im Verfassungsschutz und der Justiz, und ja sogar noch mehr, er konnte sich wieder ausbreiten“ sagte sie im Juli 2018, nachdem das NSU-Urteil gesprochen worden war. Bis zuletzt forderte sie, dass es auch in Hamburg endlich einen NSU-Untersuchungsausschuss geben muss. Aber da war durchaus noch mehr: Dass Deutschland unter einem SPD-Finanzminister der VVN-BdA die Gemeinnützigkeit entziehen würde, das war für die schon hochbetagte Kämpferin eben auch eine Lektion in politischer Taktlosigkeit: „Das Haus brennt und Sie sperren die Feuerwehr aus“, das schrieb sie Olaf Scholz ins Poesiealbum. Und dass ihre Wahlheimat Hamburg ihr niemals die Ehrenbürgerwürde verlieh – sie dafür mit der zweitklassigen Ehrendenkmünze abspeiste: Nun ja. Hamburgs SPD hat sich noch selten mit Ruhm bekleckert, wenn es um eine klare Haltung ging.
Ihre letzte große Rede hielt sie zum Tag der Befreiung in Hamburg: „Der 8. Mai ist ein Tag der Hoffnung, ein Tag des Nachdenkens! Und wir sollten das Grundgesetz feiern, das in seinem Verständnis von Freiheit, Demokratie und Menschenwürde ein klarer Gegenentwurf zur NS-Herrschaft ist, die am 8. Mai 1945 endete. Der 8. Mai muss ein Feiertag werden. Arbeiten wir daran!“ hat sie gesagt. Es gibt viele, die ihr das damals fest versprochen haben: Diese Arbeit fortzuführen.
Mit Esther Bejarano starb eine der letzten Zeuginnen von Auschwitz. Eine der letzten Insass:innen der Vernichtungslager. Und eine der wichtigsten Stimmen des Antifaschismus in Deutschland. „Esther, wir werden Deine Geschichte weitererzählen“, das versprach Hamburgs Landessprecherin der LINKEN, Zaklin Nastic, in einer ersten Reaktion auf die Meldung vom Tod der 96-Jährigen. Und Sabine Boeddinghaus, Fraktionsvorsitzende der LINKEN in der Bürgerschaft: „Das Andenken an sie ist für uns LINKE mit einem klaren Auftrag verbunden: Niemals aufgeben im Kampf gegen den Faschismus!“