36 Jahre nach Tschernobyl: Atomanlagen werden Angriffsziele, Hamburg ist immer noch atomarer Umschlags- und Transitort

Am 26.4. jährte sich der GAU im heute auf ukrainischem Boden liegenden AKW Tschernobyl zum 36. Mal. Aber erst kurz nach der Katastrophe im japanischen AKW Fukushima vor elf Jahren beschloss der Bundestag den Atomausstieg Deutschlands bis Ende 2022. Im Zuge dieses Atomausstiegs (der kein Atomausstieg ist) ging das Atomkraftwerk Brokdorf am 31.12.2021 nach mehr als 35 Jahren vom Netz. Hamburg hatte mit seinen HEW tatkräftig an der fatalen Atompolitik Deutschlands mitgewirkt.

Stichwort Tschernobyl: Nach Medienberichten sollen die russischen Truppen in den ersten Stunden des Einmarschs in die Ukraine ohne Strahlenschutz durch die bewaldete Sperrzone um das havarierte AKW gefahren sein und dabei die hochgradig verseuchte Erde aufgewühlt haben. Es folgte die wochenlange Besetzung dieser Sperrzone. Ende März zogen die russischen Einheiten im Zuge der Umgruppierung der Angriffstruppen ab und übergaben die Kontrolle wieder an das ukrainische Personal. Ist auch das ganze Ausmaß der russischen Aktivitäten in der Sperrzone von Tschernobyl noch unbekannt, so zeigen allerdings Fotos Gräben und Unterstände im verstrahlten Boden des „Roten Waldes“ (der Name rührt von der rotbraunen Farbe der Kiefern her, die durch die extreme Strahlung nach dem Tschernobyl-Unfall abgestorben sind), die russische Soldaten dort ausgehoben hatten. Einige russische Soldaten sollen sich zudem länger als einen Monat in Sichtweite des havarierten Tschernobyl-Reaktors aufgehalten haben und sich in dem Gebiet Strahlenschäden zugezogen haben. Experten sind schockiert über die Missachtung der Sicherheit durch die Einsatzleitung und die Unwissenheit der russischen Soldaten.

Auch der Beschuss und die Besetzung des leistungsstärksten AKWs in Europa bei Saporischschja im Südosten der Ukraine durch die russische Armee machen deutlich: Die Nutzung der Atomenergie ist nach wie vor eine Gefahr für die Menschen in Europa. Atomenergie ist zum Angriffsziel geworden! Ohne Atomwaffen Atomkrieg zu führen, in dem Atommeiler angegriffen werden – bisher war das undenkbar Tschernobyl war und ist also auch vor dem Hintergrund des derzeitigen Krieges eine Mahnung. Auch deshalb muss Atomenergie in Deutschland und Europa Geschichte werden.

Positiv zu vermelden – aber wohl nicht unbedingt Folge der Kriegshandlungen bzw. den darauf folgenden Sanktionen – ist, dass der ursprünglich vom französischen Eigner geplante Einstieg Russlands in eine der Atomfabriken in Deutschland derzeit vom Tisch ist. Aber: Aufgeschoben ist nicht aufgehoben… In der Bundesrepublik müssen nun endlich auch die Uranfabriken Gronau und Lingen stillgelegt werden. Das würde auch die Zahl gefährlicher Atomtransporte quer durch Hamburg verringern.

Gut, dass die Hamburg unmittelbar bedrohenden AKW Brokdorf, Krümmel und Brunsbüttel schon abgeschaltet wurden. Damit sind dann eben auch Supergau-Gefahren in Norddeutschland abgeschaltet. Ende des Jahres geht dann auch das AKW „Emsland“ in Lingen als einer der letzten deutschen Meiler endgültig vom Netz. Damit sind Supergau-Gefahren in Norddeutschland voraussichtlich „abgeschaltet“.

Auch in Hamburg tut sich was anlässlich des mit dem Krieg verbundenem Nachdenkens über die deutsche Energieabhängigkeit von fossilen Brennstoffen, die ja nicht nur, aber zuvorderst aus der Russischen Republik kommen. Hielt die CDU noch Mitte April die “Wiederinbetriebnahme des Kohlekraftwerkes Moorburg als Antwort auf den russischen Angriffskrieg und die daraus resultierende Gefährdung unserer Energieversorgungssicherheit“ für die bestmögliche Antwort der Stadt, so scherte die AfD-Fraktion mit einem Zusatzantrag auf die gleiche Linie ein: „Die Lage ist ernst: alle bestehenden Kraftwerke erhalten – alle verfügbaren Kern- und Kohlekraftwerke reaktivieren – Laufzeit verlängern – Reserven aufstocken“ Hier wird zumindest vergessen: Auch westliche Reaktoren werden mit Uran aus Russland betrieben. Laufzeitverlängerung atomarer Anlagen geht gar nicht!

Die Linksfraktion fordert seit langem den Ausstieg nicht nur aus der nuklearen Energieproduktion, sondern auch die Beendigung der Atomtransporte durch Hamburgs Hafen und die übrige Stadt, damit die Hamburger:innen sicherer in der Stadt leben können und der deutsche Atomausstieg abgesichert wird. Darum haben wir die Aktivitäten unserer Bremer Bürgerschaftsfraktion zur Sperrung der dortigen Häfen für Atomtransporte auch in den vergangenen Jahren aufmerksam verfolgt. Hier hat sich nun etwas getan, aber holen wir ein bisschen aus: Anfang Dezember 2021 erklärte das Bundesverfassungsgericht bei 6:2 Stimmen das Umschlagsverbot für Kernbrennstofftransporte in den bremischen Häfen für mit dem Grundgesetz unvereinbar. Ausgangspunkt für diesen Rechtsstreit war eine Entschließung der Bremischen Bürgerschaft vom 11. November 2010. In dieser wurde der Senat unter anderem aufgefordert, alle rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten auszuschöpfen, um Transporte von Kernbrennstoffen durch die bremischen Häfen und andere Transportwege im Land zu verhindern. Nach kontroversen Diskussionen im Plenum und den Ausschüssen beschloss die Bremische Bürgerschaft das Gesetz zur Änderung des Bremischen Hafenbetriebsgesetzes. Daraufhin stellten 20 Abgeordnete der bei der Abstimmung unterlegenen Bürgerschaftsfraktion der CDU im Mai 2012 einen Normenkontrollantrag beim Staatsgerichtshof der Freien Hansestadt Bremen, um die Verfassungsmäßigkeit des Änderungsgesetzes zu überprüfen.

Dieser Normenkontrollantrag wurde im April 2013 mit vier zu drei Stimmen als unzulässig zurückgewiesen. Es folgten Klagen von Umschlagsbetrieben und Transporteuren, die sich auf gültige Genehmigungen des Bundes beriefen und die gerichtliche Feststellung einforderten, dass der Umschlag von Kernbrennstoffen in bremischen Häfen nicht genehmigungsbedürftig sei – hilfsweise begehrten sie die Erteilung einer Ausnahmegenehmigung gemäß § 2 Abs. 3 Satz 2 BremHafenbetrG. Das Verwaltungsgericht hatte dann dem Bundesverfassungsgericht die Frage zur Entscheidung vorgelegt.

Hamburg hat mit dem freiwilligen Verzicht auf den Umschlag zumindest von Kernbrennstoffen im Hafen durch Hafenbetriebe einen ersten Schritt gemacht. Seit zwei Jahren gilt er auf den drei zur HHLA gehörenden Terminals CTB, CTT und CTA, bei Eurogate, beim Hafenunternehmen C. Steinweg sowie bei UNIKAI. Aber nach wie vor haben diese sechs Hafenbetriebe ihre Umschlagsgenehmigung und bekommen diese regelmäßig verlängert. Hamburg ist weiter Durchgangsort und Hamburgs Hafen ist Umschlagplatz für atomare Frachten. Uranhexafluorid (chem. UF6), das 2013 beim Brand des Schiffes ‚Atlantic Cartier‘ beinahe zu einer Katastrophe gleich gegenüber der Elbphilharmonie geführt hätte, wurde auch 2021 weiter im Hafen umgeschlagen und ging mit LKW und Bahn über hamburgisches Gebiet.

Die quartalsweise Abfrage der Linksfraktion Hamburg zu Atomtransporten in unserer Stadt zeigt, wie inkonsequent der Atomausstieg auch in Hamburg umgesetzt wird: 58 Kernbrennstofftransporte fuhren im vergangenen Jahr über Hamburger Straßen und sorgten damit trotz deutschem Atomausstieg auch für den Weiterbetrieb der Atomfabriken in Lingen und Gronau. Die Anzahl der Transporte nimmt zwar ab, so ergeben es die Anfragen, aber immer noch rollt im Schnitt wöchentlich ein solcher Transport über die Straßen unserer Hansestadt.

Darüber hinaus brachten die Anfragen der Linksfraktion ans Licht, dass 60 Transporte „sonstiger radioaktiver Stoffe“ über den Hamburger Hafen gingen. Auch hier ist im dritten Jahr erneut ein leichter Rückgang zu verzeichnen. Ein weiterer Rückgang an sicherheitsgefährdenden Mängeln an Güterbeförderungseinheiten (CTU) im Zusammenhang mit radioaktiven Stoffen auf nur mehr sechs im letzten Jahr ist ebenfalls festzustellen.

Lange nach Tschernobyl und Fukushima und knapp vor Abschaltung der letzten deutschen Atomkraftwerke können wir also weiterhin nicht von einem „Atomausstieg“ reden. Dafür trägt Hamburg als Transit- und Umschlagsort Mitverantwortung. Es bleibt richtig: Nicht nur Kernbrennstoffe gehören aus Hafen und Stadtgebiet verbannt, sondern generell alle Atomtransporte – mit ganz wenigen Ausnahmen, zum Beispiel in medizinischen Fällen. Erst dann werden Hafen und Stadtgebiet sicherer sein und die Gefährdung der Bevölkerung abnehmen. Und erst dann trägt Hamburg zu einem wirklichen Atomausstieg in Deutschland und Europa bei. Bis dahin werden wir weiterhin dem Senat umfassend Fragen zum Themenkomplex stellen. Unser Ziel: möglichst vollständige Zahlen über Anzahl, Art und Umfang der Atomtransporte nicht nur durch Hamburgs Hafen öffentlich verfügbar zu machen.