Stellungnahme zu den Entwürfen der Bildungspläne, Juni 2022

Entwürfe für die Tonne – Bildung muss in die Zukunft weisen!

Für eine Schule des 21. Jahrhunderts muss das Verfahren um die Entwürfe der Bildungspläne gestoppt und vollkommen neu aufgesetzt werden.

Die Bildungspläne bilden die „Grundlage für Unterricht und Erziehung“, so hält es das Hamburgische Schulgesetz (HmbSG) in §4 fest. Sie seien regelmäßig zu prüfen, zu evaluieren und „entsprechend fortzuschreiben“.

Ebenfalls wird im HmbSG §4 in Absatz 3 festgeschrieben, nach welcher Maßgabe die Bildungspläne zu entwickeln seien: „Die Bildungspläne sind nach Maßgabe der Entwicklung in den Fachwissenschaften, der pädagogischen Forschung und der Vorgaben, die Grundlage für die Anerkennung von Abschlüssen zwischen den Ländern der Bundesrepublik Deutschland sind, regelmäßig zu überprüfen, zu evaluieren und entsprechend fortzuschreiben.“

In der Rahmenvereinbarung zum Hamburger „Schulstrukturfrieden“, den SPD und Grüne mit FDP und CDU 2019 beschlossen, wurde lapidar festgeschrieben, „entrales Vorhaben“ sei „die Erarbeitung von Kerncurricula. Diese sollen die Kompetenzorientierung der geltenden Rahmenpläne und die bereits bestehenden Inhalte konkretisieren und ergänzen. Die neu formulierten inhaltlichen Vorgaben sollen Pflichtinhalte ausweisen, sodass ein gemeinsames Grundwissen gesichert werden kann.“[1]

Offensichtlich liegt ein Widerspruch vor: weder wurden die Bildungspläne evaluiert, noch werden sie fortgeschrieben. Die Festlegung von Kerncurricula und verbindlichem Grundwissen läuft der Kompetenzorientierung und Profilbildung der einzelnen Schulen zuwider.

 

Die vielfache bisherige Kritik an den Entwürfen zu den Bildungsplänen brauche ich hier nicht zu referieren, die Stellungnahmen von Schulleitungsverbänden aller Schulformen, Elternkammer, Lehrerkammer, GEW, Fachdidaktiker:innen der Uni Hamburg, Elternräten, der GGG bis hin zu Individualpersonen stehen für sich, sie sind eindeutig, sie sind nachvollziehbar und klar. Und sie alle weisen in eine Richtung: diese Entwürfe bedeuten einen Rückschritt für die Bildung in Hamburg. Ich teile diese Kritik.

  • Die Bildungsplanentwürfe entsprechen an keiner Stelle dem Stand der fachwissenschaftlichen Auseinandersetzung; sie sind schon jetzt fachlich überholt – eine Verschwendung von Zeit und Geld!
  • Das Bildungsverständnis ist rückwärtsgewandt und inkonsistent; auch damit sind die Bildungspläne schon jetzt von der Wirklichkeit überholt;
  • Der Wegfall der Kompetenzorientierung schränkt die Persönlichkeitsbildung ein; stattdessen müsste mehr Raum für individualisierten Unterricht gegeben werden;
  • Inklusion, ein Schlüsselthema in der Bildung, spielt eine Nebenrolle statt der Kern zu sein;
  • Digitale Bildung folgt allein dem veralteten Verständnis der Nutzung von Endgeräten; sie ist weder in die Bildungspläne integriert noch wird eine umfassende Ausstattung aller Schüler:innen mit digitalen Endgeräten sowie die entsprechende Befähigung geplant;
  • Die Bildungspläne sind inhaltlich vollkommen überfrachtet; wer nach ihnen Unterricht machen will, kann nur noch Dienst nach Vorschrift machen; wer einen zeitgemäßen Unterricht machen will, der die Kinder und Jugendlichen fördert, muss die Bildungspläne ignorieren;
  • Der Zeitplan der Beteiligung ist zu straff und zu intransparent;
  • Die Art der Umsetzung ist vollkommen offen und mit keinerlei zusätzlicher zeitlicher Ressource für die Lehrkräfte hinterlegt;
  • Die Verschärfung der formellen Anforderungen, durch mehr schriftliche Prüfungen, verstärkt die Bildungsungleichheit weiter;
  • Die Stofffülle der Bildungspläne macht es nicht mehr möglich, Unterricht anhand der Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler zu entwerfen;
  • Statt nachhaltigem Lernen fördern die jetzigen Bildungspläne den Schulstress;
  • Soziales und außerschulisches Lernen wird eingeschränkt;
  • Die Stofffülle lässt sich nicht im Schulalltag pädagogisch sinnvoll planen;
  • Die aktuellen Belastungen der Coronapandemie werden überhaupt nicht berücksichtigt;
  • Die Auswirkungen der Coronapandemie sind trotz der Ergebnisse der Copsy-Studie nicht berücksichtigt;
  • Die Schulgemeinschaften wurden nicht in die Erarbeitung eingebunden, geschweige denn die bildungspolitischen Gremien oder die fachlichen Expert:innen der Hamburger Universitäten.

 

Die Rechtfertigung für die Neufassung der Bildungspläne, der Schulstrukturfrieden von 2019, ist von meiner Fraktion von Anfang an abgelehnt worden, da das Zwei-Säulen-Modell in keiner Weise geeignet ist, die Bildungsungerechtigkeit zu beseitigen, geschweige denn zu verringern, im Gegenteil: die Spaltung der Gesellschaft drückt sich in aller Schärfe auch im Schulsystem aus und wird durch die zementierte Zwei-Säuligkeit sogar noch verstärkt.

Unsere Grundlage auf der wir die Bildungsplanentwürfe bewerten, ist der Entwurf eines inklusiven Schulgesetzes, den wir Ende 2019 veröffentlicht haben. Die Eckpunkte begründen eine Bildungspolitik, die in die Zukunft gerichtet ist und sich an den wesentlichen inhaltlichen Normen orientiert, die die Bundesrepublik für Bildung kennt: der UN Kinderrechtskonvention und der UN Behindertenrechtskonvention.

Die Kernpunkte des Gesetzes sind:

  • Umfassende Inklusion, nach der alle Schüler:innen individuelle Förderung nach ihren Bedarfen erhalten. Daraus folgt ein Ende der Abschulungen und die verbindliche Verantwortungsübernahme aller Schulen für ihre Schüler:innen, sie in ihren individuellen Entwicklungsverläufen fördernd und unterstützend zu begleiten.
  • Lernen im eigenen Takt, da jede:r Schüler:in eine eigene Geschwindigkeit hat, in der Bildungsprozesse verstanden und umgesetzt werden. Dieses Lernen verläuft binnendifferenziert, sowohl als horizontale als auch vertikale Differenzierung (flexible Lernzeit) in gemischten Lerngruppen, in denen die Schüler:innen mit- und voneinander lernen.
  • Der Schulalltag muss rhythmisiert sein, was bedeutet, dass die Trennung in einen schulischen Vor- und einen betreuten Nachmittag aufgehoben ist. Phasen von Anspannung und Konzentration lösen sich mit Phasen der Entspannung ab. Zum Lernen braucht es genau diese Pausen, um das Gelernte zu verarbeiten.
  • Die Grundlegung der Schulentwicklung in der Verantwortung der Bildungseinrichtungen einer Region (Reaktivierung der Regionalen Bildungskonferenzen). Von unten, aus den Nachbarschaften aufwachsend sind die Bedarfe und Erfordernisse der Bildung unter breitestmöglicher Beteiligung zu planen. Von Schulen über Jugendhilfe bis hin zu Sportvereinen und Kultureinrichtungen, alle können zu einem breiten und nachhaltigen Bildungsangebot beisteuern.

Diese Ausrichtung folgt natürlich mit den Kindern und Jugendlichen und ihrem Wohl im Mittelpunkt.

Dieser gesamten, zeitgemäßen und zukunftsweisenden Ausrichtung von Bildung im 21. Jahrhundert stehen die Entwürfe der Bildungspläne entgegen. Die Entwürfe der Bildungspläne sind weder zukunftsgerichtet, noch pädagogisch sinnvoll, noch qualitativ auf der Höhe der Zeit. Kaum veröffentlicht, sind sie ein Fall für die Mottenkiste.

Der zu befürchtende bildungspolitische Rückfall wird zulasten der Schüler:innen gehen, der jetzigen und der künftigen. Statt für die Zukunft werden sie im Gestern ausgebildet. Daher erfordert es ein sofortiges Moratorium der Bildungspläne und ein von Grund auf überarbeitetes, demokratisches Entwicklungs- und Beteiligungsverfahren.

Allein dass in Zeiten der Coronapandemie 90 Vollzeit-Lehrer:innenstellen für die Erarbeitung überholter Bildungspläne abgestellt wurden, zeugt von einem vollkommen falschen Schwerpunkt.

Weiterhin ist das gesamte Verfahren, in dem die Bildungspläne entwickelt wurden, falsch geplant.

Sofern eine Beteiligung der Öffentlichkeit und der Fachöffentlichkeit überhaupt ernsthaft von der Schulbehörde erwogen wurde, ist der Zeitplan dafür zu straff und zu intransparent konzipiert. Weder wurden die Schulgemeinschaften – die die Inhalte der Bildungspläne umsetzen müssen -, noch die bildungspolitischen Gremien oder die fachlichen Expert:innen der Hamburger Universitäten in die Erarbeitung der Bildungsplanentwürfe eingebunden. Der Prozess der Erarbeitung von Entwürfen müsste eigentlich vom Kopf auf die Füße gestellt werden: zuerst ist zu klären, welcher Begriff von Bildung die Grundlage sei, dann die Bildungspläne angehen und statt sie zu überfrachten, sollten sie entschlackt werden, das erfolgreiche Finnland macht es uns vor.[2]

Wie die neuen Bildungspläne dann zum Schuljahr 2023/24 umgesetzt werden sollen, sei vollkommen offen und zudem mit keinerlei zusätzlicher zeitlicher Ressource für die Lehrkräfte hinterlegt.

Was die Entwürfe der Bildungspläne jetzt schon sind, ist deutlich: Makulatur. Eine enorme Verschwendung von Zeit und Geld durch die Schulbehörde. Sollten diese Entwürfe verabschiedet werden, bedeutete dies einen großen Rückschritt in der Ausrichtung des Bildungswesens in Hamburg. Alle Beteuerungen des Schulsenators, die Schüler:innen sollten in der „Bundesliga“ der Bildung spielen, sind nichts als Fassade.

Die bürgerliche Ideologie von individueller Leistung, die zu Erfolg führen würde, war schon vor hundert Jahren eine Lüge, das Glücksversprechen nicht allgemein einlösbar. Das gesamte Bildungswesen des Landes Hamburg dem Diktat einer Leistungsideologie zu unterwerfen, für die es weder eine inhaltlich-pädagogische Begründung, noch eine Notwendigkeit gibt, ist nichts weiter als eine bildungspolitische Farce. Die Zukunft der jetzigen und künftigen Generationen von Schüler:innen wird verbaut werden. Um es nicht soweit kommen zu lassen, muss das jetzige Verfahren gestoppt und von Grund auf neu angesetzt werden. Die Einhelligkeit der Ablehnung sowohl des Vorgehens wie des Inhalts der Bildungspläne, ist zumindest ein Hoffnungsschimmer, dass der Präses der Bildungsbehörde in ernsthafte Gespräche geht.

Ich fordere,

  1. die Umsetzung der Entwürfe der Bildungspläne auszusetzen;
  2. ein offenes Entwicklungsverfahren einzuleiten, in dem unter Beteiligung der Öffentlichkeit und aller bildungspolitischen Akteur:innen und fachwissenschaftlichen Expert:innen der Freien und Hansestadt Hamburg zuerst ein zeitangemessener Begriff von Bildung im 21. Jahrhundert und den damit verbundenen pädagogischen und schulpolitischen Erfordernissen geklärt wird;
  3. aufbauend von diesem Bildungsbegriff mit den bildungspolitischen Akteur:innen, Fachwissenschaftler:innen und besonders den Schulgemeinschaften die fachspezifischen Inhalte zu entwickeln und daran anknüpfend
  4. eine Umsetzung für den Schulalltag mit den bildungspolitischen Akteur:innen und den Schulgemeinschaften konkret zu planen.

[1] https://www.buergerschaft-hh.de/parldok/dokument/74855/stellungnahme_des_senats_zum_ersuchen_der_buergerschaft_vom_25_september_2019_rahmenvereinbarungen_zur_sicherung_des_schulstrukturfriedens_drucksach.pdf

[2] https://www.buergerschaft-hh.de/parldok/dokument/80097/sofortiges_moratorium_der_bildungsplaene_die_entwicklung_einer_zukunftsfaehigen_bildung_muss_vom_kopf_auf_die_fuesse_gestellt_werden.pdf

 

Diese Stellungsnahme gibt es hier auch als PDF.