Plenarprotokoll 20/75: Politikwechsel Fehlanzeige – Große Koalition verschärft soziale Spaltung auch in Hamburg!

Dora Heyenn DIE LINKE:* Herr Präsident, meine Damen und Herren! Eine Große Koalition sollte in einer Demokratie immer die Ausnahme sein. Was uns jetzt droht, ist eine Regierungsübermacht, wie es sie noch nie gegeben hat. Mit 504 zu 127 Sitzen  wird die Opposition im Deutschen  Bundestag es sehr, sehr schwer haben,

(André Trepoll  CDU: Was können wir denn dafür, dass Sie so schwach sind?)

ihrem Verfassungsauftrag nachzukommen. Die Redezeitregelung, die jetzt aufgekommen ist, ist ein  Signal – ob es ausreicht, ist ausgesprochen zweifelhaft. Große Koalitionen sollten die großen Probleme unserer Gesellschaft aufgreifen und mutig zukunftsweisende Entscheidungen fällen. Aber genau das hat die Regierung aus CDU, CSU und SPD offenkundig nicht vor. Herr Wersich hat schon eine Erklärung geliefert: Die Sozialdemokraten sind für Frau Merkel dritte Wahl.
Drei Fraktionen haben heute die Frage in der Aktuellen Stunde angemeldet, welche Bedeutung die Große Koalition für Hamburg hat. Da muss man sich natürlich erst einmal fragen, was Hamburg eigentlich von allen anderen Bundesländern unterscheidet.

(Finn-Ole Ritter FDP: Die Elbe!)

Wir haben ein ganz wichtiges Unterscheidungsmerkmal, was noch gar nicht angesprochen wurde, nämlich Hamburg hat im Verhältnis zu allen anderen Bundesländern überproportional viele  Bürgerinnen und Bürger mit Migrationshintergrund. Das ist hamburgspezifisch. Bei den letzten Volksentscheiden in der Stadt ist immer wieder problematisiert worden, dass über 200 000 Hamburgerinnen und Hamburger, die teilweise schon über 30 Jahre in dieser Stadt wohnen, kein Wahlrecht haben. Das kommunale Wahlrecht war im SPD-Programm groß proklamiert. Es ist nicht umgesetzt. Das ist ein glatter Wortbruch.

(Beifall bei der LINKEN und bei Phyliss Demirel GRÜNE)

Die SPD und insbesondere ihre Spitzenkandidatin in Hamburg hat im Wahlkampf vehement für die doppelte Staatsbürgerschaft geworben und versprochen, sie einzuführen; so auch Gabriel vor den Mitgliedern der SPD. Was jetzt im Koalitionsvertrag steht, ist wieder ein glatter Wortbruch.

(Beifall bei der LINKEN und bei Phyliss Demirel GRÜNE)

So sieht es die türkische Gemeinde, so sehen es viele andere Communities. Die zahlenmäßig größte Gruppe der Migranten auch hier in Hamburg sind die Türken, aber wir haben auch Bosnier, Serben, Russen, Polen, Iraner und Afghanen. Und die Hamburger Spitzenkandidatin sagt dazu – ich zitiere –: „Wir haben ein integrationsfeindliches Signal aufheben können. Allerdings hätte ich  mir mehr gewünscht und deswegen trete ich auch in Zukunft für die doppelte Staatsangehörigkeit für alle ein.“ Das ist zu wenig, man könnte auch sagen, das ist zynisch.

(Beifall bei der LINKEN)

Künftig entfällt für in Deutschland geborene Kinder von Eltern mit ausländischem Pass der Optionszwang. Die Mehrstaatigkeit für diese jungen Menschen wird akzeptiert, aber die Einführung einer doppelten Staatsbürgerschaft sieht anders aus.

(Zuruf von Arno Münster SPD)

In der Frage der knappen Kassen, beim leidigen Thema Schuldenbremse und Kürzungspolitik ist Hamburg mit den anderen Bundesländern vergleichbar.

(Arno Münster SPD: Wer hat Ihnen die Rede geschrieben?)

Gerade die SPD hat im Bundestagswahlkampf besonders betont, dass sie sich für Steuergerechtigkeit einsetzen wolle. Das hat sie gemeinsam mit uns, mit NGOs, den Sozialverbänden und den Gewerkschaften gemacht. Sie fragen sich, was davon jetzt im Koalitionsvertrag steht. Es steht nichts davon drin. Das ist ein glatter Wortbruch.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich frage mich, was die Sozialdemokraten in der Arbeitsgemeinschaft Finanzpolitik in der Koalitionsrunde gemacht haben. Auf jeden Fall haben sie das, was sie im Wahlkampf versprochen haben, nicht eingeführt, auch nicht ansatzweise. Eines ist klar: Die Zukunft können Sie sowohl im Bund als auch in Hamburg nur gestalten, wenn Steuergerechtigkeit hergestellt wird. Das Spiel ist wieder eröffnet. Die SPD redet sich mit dem Hinweis auf die Große Koalition heraus nach dem Motto, sie hätte einen Politikwechsel gern umgesetzt. Sie hätten es gekonnt, aber Sie haben es nicht getan.
Ich möchte noch ein paar Worte zu dem sagen, was Herr Dressel angesprochen hat. Fakt ist: Die Residenzpflicht bleibt. Da hat sich nichts geändert.

(Dr. Andreas Dressel SPD: Die haben wir aber in Hamburg geändert!)

Was das Bleiberecht betrifft, so ist es zwar richtig, dass  Hamburg eine Bundesratsinitiative gestartet hat, aber diese Initiative ist im Koalitionsvertrag nicht 1:1 umgesetzt. Was drin ist – Sie haben es eben selber gesagt und ich finde es hoch problematisch –, ist das Bleiberecht für gut integrierte Jugendliche.

(Dr. Andreas Dressel SPD: Ja, und langjährig Geduldete!)

Ich habe schon seit Langem ein Grausen davor, dass nur Jugendliche, die Abitur haben, gut integriert seien, und Jugendliche mit Hauptschulabschluss seien es nicht. So geht das überhaupt nicht.

(Beifall bei der LINKEN und bei Phyliss Demirel GRÜNE – Zurufe aus dem Plenum)

Der letzte Punkt. Im Wahlkampf haben Sie immer gesagt, die Rente mit 67 sei ein Fehler gewesen und Sie müssten das ändern. Jetzt steht im Koalitionsvertrag, dass man das beibehalten will,  dass man sogar große Chancen mit 67 habe. Nach 45 Jahren mit 63 ohne Abschläge in Rente gehen zu können, trifft nur auf einen ganz kleinen Teil der Bevölkerung zu. Insgesamt ist das also sehr enttäuschend und für Hamburg kein gutes Signal.

(Beifall bei der LINKEN)

Zweiter Beitrag

Dora  Heyenn  DIE  LINKE:*  Jetzt  einmal  zum  Erfolgsmodell Schwarz-Gelb, Herr Wersich.Erfolgsmodell Schwarz-Gelb, Herr Wersich.

(Finn-Ole Ritter FDP: Wer hat das denn gesagt?)

– Das haben Sie eben vorgestellt. Viele in diesem Land verdienen viel zu wenig. Wenn Sie davon sprechen, Ihre Regierung habe dazu beigetragen, die Arbeitslosenstatistik so aufzubessern,   dass es weniger Arbeitslose gebe, dann verschweigen Sie natürlich wieder einmal, dass der Anteil prekärer Beschäftigung dramatischgestiegen ist. Das war das   Erfolgsrezept von Schwarz-Gelb, und darauf können wir gut verzichten.

(Beifall  bei  der  LINKEN  –  Dietrich  Wersich CDU: Frau Heyenn, damit hat Rot-Grün angefangen!)

Auch sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze haben so wenig Gehalt, dass man davon nicht leben kann und Aufstockung braucht. Das ist nicht erstrebenswert, und das muss aufhören.

(Beifall bei der LINKEN – Finn-Ole Ritter FDP: Was ist die Alternative? – Glocke)
Vizepräsidentin Antje Möller (unterbrechend): Meine Damen und Herren und Herr Ritter, folgen Sie bitte auch der letzten Rednerin in dieser Aktuellen Stunde.
(Zuruf: Was heißt die letzte?)

Dora Heyenn DIE LINKE (fortfahrend): – Das war nur zeitlich gemeint.

(Glocke)
Vizepräsidentin  Antje  Möller (unterbrechend): Selbstverständlich war das nur zeitlich gemeint.

Dora Heyenn DIE LINKE (fortfahrend): Wenn wir vom Arbeitsmarkt sprechen, dann sprechen wir von einem deregulierten Arbeitsmarkt. Die Deregulierung hatte ihre Hochzeit bei Rot-Grün und wurde von der Großen Koalition fortgesetzt. Wenn wir uns jetzt anschauen, was im Koalitionsvertrag steht, dann stellen wir fest, dass die prekäre Beschäftigung auch weiterhin in großem Umfang Bestand hat. Der gesetzliche Mindestlohn wird auf die Wartebank geschoben, und die geplanten Maßnahmen für Leiharbeit sind eher kosmetischer Natur und nutzen einem großen Teil der Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter nichts. Ob Missbrauch mit dieser Regelung ausgeschlossen wird, was Leiharbeit betrifft, das soll sich erst herausstellen und ist mehr als fraglich.  Weiterhin gibt es die Möglichkeit der sachgrundlosen Befristung von Arbeitsverträgen, und bei der dringend notwendigen Regulierung von Werkvertragsarbeit, was eben auch schon angesprochen wurde, haben sich CDU, SPD und CSU gerade einmal auf den kleinsten gemeinsamen Nenner verständigt.
Nun zum flächendeckenden Mindestlohn, für den unsere Partei bekanntlich seit 2005 eintritt. Irgendwann hat die SPD ihn auch entdeckt, aber bevor jetzt alle Beschäftigten in den Genuss eines  flächendeckenden  Mindestlohns kommen, werden wir das Jahr 2017 haben. Da ist die SPD mit ihrem großen Vorzeigeprojekt in den Verhandlungen grandios gescheitert.

(Dr. Andreas Dressel SPD: Sie haben überhaupt  keinen Mindestlohn durchgesetzt! Was haben Sie denn durchgesetzt? Gar nichts!)

Das ist ein Rohrkrepierer geworden, weil sich die Millionen von Beschäftigten mit niedrigen Löhnen weitere drei Jahre mit ihrem Niedriglohn begnügen sollen. Der Mindestlohn soll erst 2015 eingeführt werden, und für weitere zwei Jahre darf per Tarifvertrag auch noch davon abgewichen werden. Mit dieser Einigung werden die Niedriglohnbeschäftigten weiter im Regen stehen gelassen. Wenn der Mindestlohn für alle erst 2017 greift, dann kann er 2018 erstmals erhöht werden. Das stellt natürlich, was die Steigerung der Lebenshaltungskosten und die Tarifverträge betrifft, eine dramatische Entwertung dar. Am 1. Mai hat der damalige DGB-Vorsitzende Uwe Grund auf dem Fischmarkt klar und deutlich gesagt, ein Mindestlohn von 8,50 Euro sei auch jetzt unterhalb dessen, womit der Lebensunterhalt gesichert sei.

(Finn-Ole Ritter FDP: 12 Euro!)

Wir brauchen mindestens 10 Euro, und wenn die 8,50 Euro nun auch noch ohne weitere Erhöhung bis 2018 festgeschrieben werden, dann reicht der Mindestlohn nicht einmal zur Sicherung   der Existenz. Damit erfüllt der Mindestlohn seine zentrale Aufgabe nicht, die darin besteht, dass jemand, der Vollzeit arbeitet, von seinem Lohn auch leben können muss, und das kann er nicht.  Wer Vollzeit  arbeitet, muss dann auch eine Rente haben, die oberhalb der Aufstockungsgrenze liegt, und das ist auch nicht der Fall. Sie haben mit dieser Regelung dazu beigetragen, dass die prekäre Beschäftigung festgeschrieben ist, und das ist alles andere als ein Erfolg.

(Beifall bei der LINKEN)

Dritter Beitrag

Norbert  Hackbusch DIE LINKE: Herr Präsident, meine Damen und Herren! Eine Diskussion um den Berliner Koalitionsvertrag birgt natürlich immer das Problem, dass man sich 125 Punkte heraussuchen, alle einzeln durchdiskutieren und dementsprechend an allen Aspekten irgendetwas bewirken kann. Ich glaube, es ist nicht vernünftig, das zu machen. Ich habe mitbekommen und mich auch darüber gefreut, dass die SPD gesagt hat, sie wolle, wie der Bürgermeister ausgeführt hat, einige Dinge am Arbeitsmarkt politisch wieder etwas ordentlicher machen. Das will  ich hier ausdrücklich begrüßen, möchte Sie aber daran erinnern, dass gerade die SPD und der Bürgermeister diejenigen waren, die während Rot-Grün und der Großen Koalition den  Arbeitsmarkt sehr durcheinandergebracht haben,

(Beifall bei der LINKEN)

und viele schlechte Situationen, wie sie nun bei der Leiharbeit und den Werkverträgen entstanden sind, überhaupt erst initiiert haben. Das nun ein bisschen zu korrigieren, ist schon einmal etwas Gutes, aber aufgrund dessen kann man nicht Sozialdemokrat werden.

(Beifall bei der LINKEN – Dr. Andreas Dressel SPD: Das verlangen wir auch nicht!)

Meine Damen und Herren! Ich will versuchen, die gesamte Diskussion anhand der Überschrift zu organisieren, die Herr Dressel uns vorgeschlagen hat. Herr Dressel hat gesagt, das  Entscheidende ist – und das stimmt auch –, was am Ende für die Menschen dabei herauskommt.

(Sören Schumacher SPD: Richtig viel!)

Das ist immer sehr schwer zu messen. Das wissenwir auch, darüber gibt es etliche Debatten, aber es gibt auch harte Fakten und Zahlen, die wir uns ansehen können. Das eine ist der Armuts- und Reichtumsbericht, den die Bundesregierung in diesem Jahr aufgelegt hat und der darstellt, wie sich Armut und Reichtum verteilen und wie sich die Situation der Menschen in den vergangenen zehn Jahren verändert hat. Das sind zehn Jahre unter Rot-Grün und vor allen Dingen auch unter der Großen Koalition von 2005 bis 2009, an die wir uns gut erinnern können. Was  sind die Kennzeichen des Armuts- und Reichtumsberichts dieser Bundesregierung?
Erstens hat die Spaltung zwischen Arm und Reich kräftig zugenommen, zweitens ist in dieser Zeit der Reichtum der Allerreichsten explodiert und drittens hat das Armutsrisiko kräftig zugenommen. Das ist die Bilanz von sozialdemokratischer Mitregierung in den vergangenen zehn Jahren. Aufgrund dessen sind wir äußerst skeptisch, ob diese Trippelschritte, die uns als positiv dargestellt worden sind, in der Grundsubstanz wirklich etwas für diese Gesellschaft bringen.

(Beifall bei der LINKEN)

Einwände,  die gegen solche Kritik vorgebracht wurden, lauteten, das seien teilweise aktuelle Zahlen gewesen oder wegen Krisensituationen der Wirtschaft könne man das noch nicht richtig  behandeln. Es gibt seit zwei, drei Wochen einen neuen Bericht der Bundesregierung, den „Datenreport 2013: Ein Sozialbericht für die Bundesrepublik  Deutschland“,  herausgegeben von der Bundeszentrale für politische Bildung. In diesem Bericht –  das  gilt jetzt  vor allen Dingen  für die CDU und die FDP und ihre Bilanz – werden zwei Dinge festgestellt. Erstens, dass das Armutsrisiko in diesen  Jahren trotz guter ökonomischer Grundlagen noch einmal kräftig gestiegen ist.

(André Trepoll CDU: Das ist Ihre Anmeldung für morgen!)

Das liegt in Ihrer Verantwortung, und diese Politik war nicht gut für die Menschen. Das Schlimmste ist aber, dass mittlerweile 5 bis 6 Prozent der Menschen in dieser Gesellschaft unter erheblichen materiellen Entbehrungen, wie etwa unbeheizten Wohnungen, leiden. Auch das, meine Damen und Herren, ist nicht mehr zu ertragen.

(Vereinzelter Beifall bei der LINKEN)

Es gab in diesem Wahlkampf ein Hoffnungszeichen für mich, nämlich dass es so etwas wie eine rot-rot-grüne Stimmung gibt, die besagte, dass dieses Thema vor allen Dingen angegangen  werden muss. Armut ist nicht nur ein Problem der Gerechtigkeit, sondern Armut ist auch entscheidend zu bekämpfen, um diese Gesellschaft sozial, aber auch wirtschaftlich voranzubringen.   Für solche Veränderungen ist in diesem Koalitionsvertrag kein Ansatzpunkt zu sehen. Das sind große Aufgaben, die hier zu leisten sind, das sind große Auseinandersetzungen, und es wird nicht  gelingen, wenn man nicht auch den Reichtum in dieser Gesellschaft angeht.

(Beifall  bei  der  LINKEN  –  Vizepräsidentin Antje Möller übernimmt den Vorsitz.)

Ohnedem gibt es keine Lösung dieses Problems, ohnedem gibt es keine sozialere Gesellschaft in dieser Welt. Als Letztes sage ich Ihnen: Die Situation ist vor allen Dingen im Zusammenhang mit der von Ihnen für diese Stadt beschlossenen Schuldenbremse dramatisch. Ich weiß nicht, wie das ohne Mehreinnahmen gehen soll. Das werden wir aber leider in den nächsten Monaten debattieren. – Danke.

(Beifall bei der LINKEN)