Chantal, Yagmur,  Tayler: Immer wieder werden in Hamburg Kinder vernachlässigt und misshandelt, zu oft mit Todesfolge. Doch wie konnte so weit kommen? Sabine Boeddinghaus, familien- und jugendpolitische Sprecherin, und Mehmet Yildiz, kinderpolitischer Sprecher, schieben die Schuld nicht einfach einzelnen Sozialarbeiter_innen zu. Sie sehen Fehler im System der Jugendhilfe – und stellen klare Forderungen an den Senat.

Dieses Interview erschien zuerst am 18.12. in der Jungen Welt

Sieben Kinder sind seit 2004 in Hamburg trotz Aufsicht durch Jugendämter in ihren Familien zu Tode gekommen. Am 23. Oktober brachte in einer vom Amt betreuten Familie in Hamburg-Neugraben ein Vater seine zweijährige Tochter um. Ein weiterer Fall von Behördenversagen?

Mehmet Yildiz: Natürlich ist jedes Kind, das stirbt, ein Kind zu viel. Immer gleich die Jugendämter verantwortlich zu machen, wenn sie denn wie im Fall in Neugraben einbezogen sind, ist kurzschlüssig. Schon gar nicht ist die Stadt Hamburg besonders betroffen von solchen Fällen wie Gudula Kaufhold von der TU Dortmund in einer Untersuchung für die Enquete-Kommission „Kinderschutz und Kinderrechte weiter stärken“ nachwies. Natürlich müssen solche Vorgänge überprüft werden, allerdings aus meiner Sicht durch eine unabhängige Jugendhilfeinspektion. Anlassbezogene Überprüfungen und die regelmäßige fachliche Qualitätssicherung müssen getrennt werden. Dann steigt auch deren Akzeptanz bei den Mitarbeiter_Innen der Jugendämter.

Sozialsenatorin Melanie Leonhard, SPD, behauptete in einem Interview im Hamburger Abendblatt Anfang November zu dem Fall, die Allgemeinen Sozialen Dienste (ASD) seien ausreichend besetzt, Vakanzen seien selten. Sehen Sie das auch so?

Sabine Boeddinghaus: Die Ausstattung der Jugendämter mit Personal ist 2015 um 75,5 Stellen erhöht worden, das ist richtig. Allerdings war das auch überfällig und erfolgte erst nach Protesten der Beschäftigten und Anträgen der LINKEN in der Bürgerschaft. DIE LINKE hatte damals 100 Stellen gefordert. Das entsprach den Forderungen der Gewerkschaft. Fast alle zusätzlichen Stellen wurden inzwischen besetzt. Eine Schriftliche Kleine Anfrage der Linken zur Personalsituation zeigt allerdings, dass die Zahlen zur „Personalfluktuation“ bedenklich bis alarmierend sind. Ein Problem ist das Verhältnis von erfahrenen und den neuen Fachkräften. Auch das Einarbeitungskonzept muss angeschaut werden, um eventuelle strukturelle Überlastungssituationen der erfahrenen Fachkräfte zu vermeiden, in einzelnen überlasteten Abteilungen müsste mit zusätzlichem Personal nachgesteuert werden. Dies muss mit den ASD-Fachkräften und ihrer Gewerkschaft verhandelt werden.

Die Senatorin verweist auf neue Stellen in den ASD und die Einrichtung der Jugendhilfeinspektion Anfang 2013, die die Arbeit der Jugendämter überwacht. Hat das die Situation entspannt?

Sabine Boeddinghaus: Natürlich entspannt zusätzliches Personal die Situation. Kollektive und individuelle Überlastungsanzeigen sind nach 2015 zurückgegangen. Trotzdem bleibt die Situation in den Jugendämtern angespannt. Ein großer Teil der Arbeitszeit der ASD-Beschäftigten geht mit Kontroll- und Dokumentationspflichten verloren und füttert die Behördensoftware JUS IT. Die Aufteilung der Arbeit gemäß Fachliteratur, die 50% für die Fallarbeit, 30% für die kollegiale Beratung und 20% für Kontrolle und Dokumentation vorsieht, wird nur selten eingehalten

Vor einem Jahr haben auch Mitarbeiter der Jugendhilfe bei einer Anhörung Ihrer Fraktion im Rathaus beklagt, dass sie in Zeiten der „Schuldenbremse“ genauso unter Deckelung der Mittel leiden wie alle anderen staatlich finanzierten Bereiche der Stadt. Hat sich da was gebessert?

Mehmet Yildiz: Nein. Der Senat hat trotz steigender Steuereinnahmen und Überschüsse im Kernhaushalt keine Änderungen seiner Politik in diesem Bereich vorgenommen. Dabei leistet sich der Hamburger Senat nicht nur eine Schuldenbremse, sondern auch ein Finanzrahmengesetz mit einer Obergrenze für den Haushalt, die dafür sorgt, dass selbst hohe Überschüsse ausschließlich in Rücklagen und Entschuldung gehen. Langfristig notwendige Investitionen nicht nur in soziale Infrastruktur werden so nicht getätigt. Weiterhin hohe Ausgaben in den jeweils nachgelagerten Sozialsystemen sind die Folge. Auch die Ausgaben zu den Hilfen zur Erziehung steigen weiter. Allenfalls eine Begrenzung des Anstiegs konnte durch den Einsatz der Sozialen Hilfen und Angebote erreicht werden.

Leonhard sah die Schuld im Interview eher bei den Familiengerichten, vor denen das Wohl der Kinder eine oft zu geringe Rolle spiele. Das veranlasste Oberlandesgerichtpräsidentin und Amtsgerichtspräsident zu einer harschen Antwort. Spielt die Senatorin da schwarzer Peter, um von Behördenversagen abzulenken?

Sabine Boeddinghaus: Hamburg greift gegenüber dem Jahr 2011 öfter in Familien ein, entzieht häufiger das Sorgerecht und schickt die Kinder – abweichend vom Bundesdurchschnitt  – länger in Heime und lässt die Kinder nur kurze Zeit in Pflegefamilien. Das sind Fakten aus einer Anfrage der Fraktion. (21/10362) Dabei sind die Gerichte wesentlich zögerlicher, was sich an der Zahl der durchgeführten Verfahren ablesen lässt. Die Zunahme dieser Eingriffsorientierung ist eine neue Entwicklung der letzten fünf Jahre. Sie ist Ausdruck einer Jugendhilfepraxis, die um jeden Preis Fehler zu vermeiden sucht. So werden die Systeme geschützt, aber nicht die Kinder.

Müsste der Staat gerade in Zeiten, in denen der Druck auf viele Eltern, gerade in materiell schlechter gestellten Haushalten, massiv anwächst, nicht viel mehr Geld in die Unterstützung der Familien stecken?

Sabine Boeddinghaus: Sicher sind die Auswirkungen der Hartz-Gesetze auch in der Jugendhilfe spürbar. Insofern plädiert DIE LINKE in Hamburg für den Ausbau der Bildung und sozialen Infrastruktur in Hamburg. Das spart aus unserer Sicht langfristig sehr viel Geld in den nachgelagerten Sozialsystemen. Viele Studien zur frühkindlichen Bildung zum Beispiel belegen den großen Nutzen, wenn die Qualität in den Kitas in Form guter Personalschlüssel gegeben ist. Deswegen unterstützen wir auch die Volksinitiative des Kita-Netzwerkes für mehr Personal in Hamburg. Allerdings sind Problemlagen in der Kinder- und Jugendhilfe nicht nur Armutsfragen. Auch die Trennung von Eltern oder der Tod eines Elternteils können traumatisch für Kinder sein. Wichtig ist, dass früh geholfen wird, anstatt die Dinge auf die lange Bank zu schieben.

Ist es nicht so, dass spektakuläre Todesfälle wie der des Mädchens im Oktober die Aufmerksamkeit nur kurzzeitig auf Probleme lenken, wie sie in vielen Familien herrschen – ansonsten das Schicksal dieser Familien der Mehrheit der Gesellschaft aber im Grund egal ist?

Mehmet Yildiz: Den Eindruck könnte man gewinnen. Die Zahlen zu den Kindeswohlgefährdungsmeldungen zeigen zwar nach oben, aber der größte Teil der Meldungen kommen von der Polizei. Über 90% dieser Meldungen erledigen sich. Das System ist sehr ineffektiv. Von Nachbarn oder Verwandten kommen dagegen sehr wenig Meldungen. Trotzdem gibt die Stadt sehr viel Geld für die Kinder- und Jugendhilfe aus, leider oft  in zu viel Kontrolle und Dokumentationspflichten und nicht für die Kinder und ihre Familien. Selbst die Jugendhilfeinspektion hat in ihrem Bericht zu Tayler angemahnt, hier zu einer Verschlankung der Vorschriften zu kommen. Auch die immer weiter voranschreitende Standardisierung der Arbeit versperrt in vielen Fällen den Blick auf die konkreten Problemlagen der betroffenen Familien.

 

Foto: „Jugendhilfe Hinweis“ (CC BY-SA 2.0) by Maik Meid