Hilfe bei Jobcenter-Sanktionen: „Wir zeigen Betroffenen, dass sie nicht alleine sind!“

Einen Termin verpasst, ein Job-Angebot abgelehnt? Das kann für Hartz-IV-EmpfängerInnen böse enden. Jobcenter sanktionieren schnell und kürzen Geldleistungen. Das Problem: Viele Betroffene wissen gar nicht, was sie falsch gemacht haben. Oder, dass viele der Sanktionen gar nicht rechtens sind. Inge Hannemann, arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE, hat selbst jahrelang im Jobcenter gearbeitet und das Hartz-IV-System mit seinen strengen Sanktionen öffentlich kritisiert. Mit der kostenlosen Internetplattform „Sanktionsfrei“ will sie Betroffenen nun ganz konkret helfen.

„Sanktionsfrei“ will Hartz IV-EmpfängerInnen dabei unterstützen, sich gegen die Jobcenter-Bürokratie zur Wehr zu setzen. Das klingt erst einmal nach langen Rechtsstreits mit ungewissem Ausgang. 

Schon die hohe Beteiligung der Betroffenen bei „Sanktionsfrei“ zeigt doch, dass viel Widerstandspotenzial vorhanden ist. Und damit meine ich nicht nur die Spendenbeteiligung, sondern auch die große Unterstützung bei der Verteilung unserer Flyer in den Städten, beim Anschreiben weiterer UnterstützerInnen oder vom Teilen unserer Beiträge in den sozialen Netzwerken. Wir müssen Betroffene also gar nicht ermutigen, sondern dazu inspirieren weiter zu machen.

Warum ist ein Projekt wie „Sanktionsfrei“ nötig?

Zu wenige Menschen wehren sich gegen die Sanktionsbescheide, das zeigen die Statistiken der Bundesagentur für Arbeit. Die eigenen Rechte sind ihnen oft nicht bekannt, weil die Jobcenter darüber kaum informieren – die rechtliche Komplexität ist so hoch, dass sich viele gar nicht an den Widerspruch oder die Klage trauen. Die vielen Formfehler in den Sanktionsbescheiden zeigen, dass sich noch nicht mal die Jobcenter richtig auskennen. „Sanktionsfrei“ soll eine Gemeinschaft schaffen: Wir wollen zeigen, dass Betroffene nicht alleine sind. Übrigens ist die Anzahl der Widersprüche und Klagen im Verhältnis zur Anzahl der Arbeitslosengeld-II-EmpfängerInnen im Osten doppelt so hoch wie im Westen.

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Welche Sanktionen verhängen die SachbearbeiterInnen eigentlich in den Jobcentern? Und welche Gründe gibt es für solche Maßnahmen?

Rund 70 Prozent der Sanktionen erfolgen aufgrund von Meldeversäumnissen. Der Rest verteilt sich auf Verstöße gegen die „Eingliederungsvereinbarung“ – dem Vertrag zwischen Jobcenter und Arbeitslosengeld-II-Leistungsberechtigten. Oft wird es, gerade in den Medien, so dargestellt, als ob die Betroffenen den Termin zwar wahrnehmen könnten, aber einfach nur zu faul sind. Was weniger bekannt ist: Die Termine werden von den Jobcentern immer wieder viel zu kurz angesetzt, die Post kommt zu spät oder gar nicht an, auch andere wichtige Gründe für ein Versäumen wie fehlende Kinderbetreuung, Krankheiten oder Vorstellungsgespräche werden ignoriert.

Sie waren selbst jahrelang als Arbeitsvermittlerin tätig. Mussten sie auch Sanktionen verhängen?

Ja, schließlich musste auch ich den internen Richtlinien entsprechen. Die Sanktionen, die ich verhängt habe, habe ich aber zu 99 Prozent wieder zurückgenommen, wenn ich mit den Betroffenen die Gründe dafür evaluiert habe. Grundsätzlich habe ich nicht sanktioniert, wenn mir Erkrankungen bekannt waren, die dazu führten, dass die Betroffenen nicht kommunizieren konnten. Oder wenn die Menschen die deutsche Sprache nicht beherrschten oder eben die Kinderbetreuung ein großes Problem war. Die Jobcenter können dann nämlich einfach einen Termin verschieben und müssen nicht sanktionieren.

Sechs Millionen Menschen leben in Deutschland von Hartz IV – darunter 1,7 Millionen Kinder. Der Regelbedarf beträgt 404 € für eine alleinstehende Person.   Wie sieht die Hilfe für Hartz IV-EmpfängerInnen durch „Sanktionsfrei“ nun konkret aus?

Von Sanktionen Betroffene können ihren Bescheid hochladen oder abfotografieren. Dieser wird dann durch unsere Anwälte rechtlich überprüft, zunächst auf Formfehler seitens der Jobcenter. Die Betroffenen können dann selbst entscheiden, wie weit unsere Hilfe gehen soll. Das können Widerspruchsschreiben sein oder anwaltliche Hilfe. In beiden Fällen übernehmen wir, wenn gewünscht, die Kommunikation mit dem Jobcenter. Außerdem wollen wir durch Online-Beratung Betroffenen einen niedrigschwelligen Zugang zu Informationen bieten. Es soll die Möglichkeit geben, Jobcenter-Formulare online auszufüllen. Über Plausibilitätsprüfungen und begleitende Fragen und Hilfetexte können dann bestimmte Fälle, die wahrscheinlich zu Problemen mit den Jobcentern führen, früh erkannt werden. Durch die Anonymität im Internet wollen wir eine Hemmschwelle nehmen.

Steht „Sanktionsfrei“ dann nicht in Konkurrenz zu bestehenden Beratungsnetzwerken?

Dort, wo Standardfragen betroffen sind, die ein Computer leicht beantworten kann, wird automatisiert geholfen. Dort, wo individuelle Unterstützung nötig ist, wollen wir AnwältInnen, ehrenamtlich Helfende sowie Beratungsnetzwerke einbinden. Sanktionsfrei sieht sich also nicht als Konkurrenz zu diesen Einrichtungen, sondern möchte idealerweise in Partnerschaft zu den bestehenden Angeboten arbeiten.

„Sanktionsfrei“ will Betroffene auch finanziell unterstützen. Ist das rechtlich überhaupt möglich? Hartz IV-Empfängerinnen sind doch dazu verpflichtet, alle Einkünfte zu melden, die Einnahmen werden mit dem Sozialgeld verrechnet.

Richtig. Arbeitslosengeld-II-Leistungsberechtigte sind gesetzlich verpflichtet, dem Jobcenter alle Einkünfte zu melden. Allerdings ist es nicht verboten, sogenannte zweckgerichtete zinslose Darlehen zu vergeben. Diese dürfen dann auch nicht auf Hartz IV angerechnet werden, weil sie ja wieder zurückgezahlt werden müssen. Damit erreichen wir, dass wir den Betroffenen den Existenzdruck nehmen und sie sich wieder auf sich selbst, ihre Familie oder sonstiges konzentrieren können. Armut und Angst lähmen. Wir lehnen uns an die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zu den Nothilfezahlungen aus 2010. (nachzulesen unter B 14 AS 46/09 R, Anm.d.R.)

Die harte Sanktionspraxis basiert auf der Annahme, dass Menschen mit Druck und Bestrafung auf den richtigen Weg gebracht werden können. Kann dieser Ansatz überhaupt funktionieren?

Ganz klar: Nein. Druck erzeugt Gegendruck. Meine Erfahrungen bestätigen das. Junge Menschen habe ich durch Sanktionen verloren. Einige resignieren, passen sich an und ein paar wenige gehen in den Widerstand. Dass man mündige BürgerInnen bestrafen darf, ist eine Farce. Aus diesem Grund gehören Sanktionen nicht in eine Behörde, die eigentlich helfen oder vermitteln sollte. Ich finde es makaber, dass ein zugesichertes Existenzminimum weiter gekürzt werden darf. Menschen ihre Existenzgrundlage nehmen: Das grenzt an Gedanken, die mit Menschsein nichts mehr zu tun haben. Somit ist es ein Eingriff in die Grundrechte eines Existenzminimums.

Gab es Reaktionen ehemaliger Jobcenter-KollegInnen oder vonseiten der Behörden auf dein Engagement für „Sanktionsfrei“?

Ja, „Sanktionsfrei“ war schon auf der Tagesordnung in Jobcentern. Einige Ehemalige oder KollegInnen befürworten das Projekt. Rückmeldungen ergaben, dass die MitarbeiterInnen nicht Angst vor einzelnen Betroffenen haben, sondern vor dem sich bildenden Kollektiv an Widersprüchen oder Klagen. Sie haben auch nicht Angst vor Mehrarbeit durch Widersprüche und Klagen – diese werden ja direkt an die Rechtsabteilung der Jobcenter weitergeleitet. Vielmehr sind sie beunruhigt, dass die Betroffenen über ihre Rechte aufgeklärt werden und sich daraus ein größerer Widerstand ergibt.

Warum hält die große Koalition deiner Meinung nach am Hartz IV-System mit seinen strengen Sanktionen fest?

Durch Sanktionen können die Jobcenter Menschen in jede Tätigkeit, jede sinnlose Maßnahme zwingen. Angst vor Geldentzug wirkt. Sanktionen dienen der Wirtschaft, denn unbeliebte oder prekäre Beschäftigungsverhältnisse wie Zeitarbeit werden so besetzt. Sie dienen dazu, Arbeitsverhältnisse von Beschäftigten beizubehalten, selbst wenn diese prekär sind, die Angst vor Hartz IV wirkt also auch in die Erwerbstätigkeit hinein.Auch ist es eine Ersparnis aus den zur Verfügung stehenden Haushaltsmitteln der Bundesagentur für Arbeit. Zwar wird die Ersparnis seit 2014 nicht mehr in die passiven Leistungen im Vorfeld berücksichtigt, jedoch wirkt sie sich natürlich auf das Gesamtbudget der Jobcenter aus. Zahle ich weniger Miete oder Gelder zum Leben aus, spart das Kosten für die Kommune oder eben den Bund.

Das erste Spendenziel von 75.000 Euro hat „Sanktionsfrei“ durch Crowdfunding erreicht. Wie geht es nun weiter?

Ende März hat die Programmierung der Onlineplattform begonnen, mit der wir bald als Testversion auf den Markt kommen. Hier wollen wir bereits Hilfe für Sanktionen bei Meldeversäumnissen anbieten. Im Herbst soll dann die umfangreiche Version fertig sein. Parallel sind weitere Kampagnen geplant und in der Vorbereitung.

 

–> Weitere Infos zur Initiative „Sanktionsfrei“, Hintergrund und Unterstützungsmöglichkeiten gibt es auf www.sanktionsfrei.de