Christiane Schneider
Karin Desmarowitz

„Die Forderungen der Volksinitiative sind jenseits von Gut und Böse“

Die Volksinitiative „Hamburg für Integration!“ hat in weniger als einer Woche mehr als 10.000 Unterschriften gesammelt. Im zweiten Schritt, dem Volksbegehren, müsssen in drei Wochen 60.000 Unterschriften gesammelt werden. Dann wäre ein Volksentscheid möglich. Christiane Schneider, flüchtlingspolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE, hat heute in der Hamburgischen Bürgerschaft zum Thema gesprochen. In ihrer Rede hat sie erneut klar gemacht, dass DIE LINKE den Volksentscheid nicht unterstützt – aus guten Gründen. 

Die Rede von Christiane Schneider zum Nachlesen: 

Christiane Schneider

Unser Anliegen ist, dass Hamburg eine Stadt des Ankommens wird: Hamburg soll Schutzsuchenden Zuflucht und eine Perspektive bieten und Bedingungen ihrer Teilhabe schaffen. Grundvoraussetzung ist zunächst eine menschenwürdige Unterkunft. Dazu ist Hamburg rechtlich verpflichtet, nicht zuletzt auch durch die Verpflichtung auf die Menschenrechte.

Obdachlosigkeit tausender Flüchtlinge droht

In der letzten Woche hat sich nun eine Volksinitiative auf den Weg gemacht, die sich „Hamburg für gute Integration“ nennt. Das hört sich gut an. Die Krux ist: Nimmt man ihre Forderungen unter die Lupe, tut sich ein unlösbarer Widerspruch auf zwischen der Verpflichtung, Schutzsuchende aufzunehmen, und den Bedingungen, die die Initiative als Voraussetzung einer „nachhaltigen Integration“ ansieht.

Allein die Forderung, zwischen allen Standorten mit mehr als 100 Flüchtlingen einen Mindestabstand von 1000 Meter Luftlinie einzuhalten, würde bedeuten, dass etwa von den derzeit 9.000 Plätzen in Wandsbek fast zwei Drittel verschwinden müssen. In Altona blieben von derzeit 6870 Plätzen rund 1.600 übrig. Allein in diesen beiden Bezirken müssten für über 11.000 Geflüchtete neue Unterkünfte geschaffen werden. Und legt man die Zahlen des Senats zugrunde, dann läuft die Forderung, dass ab sofort an keinem Standort mehr als 300 Geflüchtete untergebracht werden dürfen, darauf hinaus, dass 2016 mindestens 134 neue Standorte gefunden werden müssten.

Die Forderungen laufen auf eine Obergrenze hinaus, also darauf, rechtliche Aufnahmeverpflichtungen ebenso auszuhebeln wie das Menschenrecht auf ein Dach über dem Kopf.

Diese beiden Forderungen sind jenseits von Gut und Böse. Müssten sie umgesetzt werden, müsste Hamburg bald seine Tore für Schutzsuchende schließen. Sie laufen auf eine Obergrenze hinaus, also darauf, rechtliche Aufnahmeverpflichtungen ebenso auszuhebeln wie das Menschenrecht auf ein Dach über dem Kopf. Geflüchtete müssten noch länger in Erstaufnahmeeinrichtungen verbleiben, weil es an Folgeunterkünften mangelt. Zelte und Hallen würden Dauereinrichtungen. Zahlreiche Schutzsuchende würden der Obdachlosigkeit ausgeliefert. Die Volksinitiative stellt mit ihren Forderungen Grund- und Menschenrechte der Geflüchteten zur Abstimmung.  Das geht überhaupt nicht!

Die InitiatorInnen pokern mit den Grundrechten der Geflüchteten

Wir unterstellen nicht, dass die InitiatorInnen das alles bezwecken. Aber sie mobilisieren Stimmungen, um Druck auszuüben. Sie pokern. Sie pokern mit  Grundrechten der Geflüchteten. Sie spielen mit dem Feuer und polarisieren die Stadt. Deshalb lehnen wir die Volksinitiative ab.  12113511_602669619870763_7820277191803474916_o

Wir wollen wie Zehntausende HamburgerInnen, dass die Stadt alles tut, um bestmögliche Bedingungen für ein solidarisches Zusammenleben zu schaffen. Das heißt auch für uns: möglichst dezentrale Unterbringung. Gestern wurde ein Projekt der HCU vorgestellt, das die Stadtgesellschaft zur Beteiligung auffordert, möglichst viele, gerade auch kleine Flächen für neue Standorte zu finden. Natürlich fragen wir: Wie ernst ist das gemeint, wie verbindlich der Prozess? Wenn es mehr sein soll als eine Hinhaltetaktik, dann muss mindestens das bisherige und weitere Verfahren der Flächenfindung transparent, nachvollziehbar, Entscheidungen korrigierbar werden. Und: warum erst so spät? Warum tut sich der Senat so unendlich schwer, die vielen Initiativen, die es seit langem aus der Zivilgesellschaft gibt, ernsthaft zu prüfen oder gar aufzugreifen, zum Beispiel:

  • Leerstand konsequent zu nutzen: wir brauchen eine Taskforce, die ihn aufspürt. Das löst nicht die Probleme, ist aber ein Baustein!
  • Büroleerstand in Wohnraum zu verwandeln – warum werden erst sieben Bürogebäude genutzt und sind 26 Standorte noch in der Phase Sondierung, Planung oder Umbau? Warum wird das stadteigene Springergebäude nicht genutzt, wie immer wieder gefordert?

Ich will jetzt nicht alle bekannten Forderungen und Vorschläge aufzählen. Aber eines will ich sagen: intransparentes Handeln und eine fortgesetzte Missachtung des Beteiligungswillens lenken Wasser auf die Mühlen rechtester Kräfte, die Geflüchtete mit allen Mitteln aus Europa, aus Deutschland heraushalten wollen. Zivilgesellschaftliches Engagement und der Wille, sich an guten Lösungen zu beteiligen, dürfen nicht immer wieder ins Leere laufen. Beides ist unverzichtbar, um die wachsenden Stadtteile so zu gestalten und auszustatten, dass ALLE etwas davon haben. Hier ist ein verbindlicher Beteiligungsprozess unverzichtbar. Betrachten Sie in diesem Sinne die derzeitige Volksinitiative als Chance zu einer dringend notwendigen Korrektur!

Zusammengefasst: DIE LINKE erkennt viele Defizite in der städtischen Flüchtlingsunterbringung und teilt einige Forderungen der Volksinitiative, trotzdem unterstützen wir Idee eines Volksentscheids nicht. Zum Einen sind die Forderungen nicht realisierbar, ohne tausende Geflüchtete der Obdachlosigkeit auszusetzen. Die Umsetzung eines Mindestabstands von 1000 Meter Luftlinie etwa würde dazu führen, dass zahlreiche bestehende Unterkünfte schließen und bis Ende 2016 viele neue Standorte gefunden werden müssten. Die Vermittlung von Flüchtlingen in Folgeunterkünfte würde sich noch weiter verzögern, Grund- und Menschenrechte der Geflüchteten würden verletzt. Außerdem wäre ein Volksentscheid gefährlich: Es ist wahrscheinlich, dass er von der politischen Rechten instrumentalisiert werden wird, um allgemein Stimmung gegen Flüchtlinge zu machen – auch wenn wir den InitiatorInnen selbst diese Absicht nicht unterstellen. Der Senat sollte nun dringend verbindliche und transparente Bürgerbeteiligungsprozesse einführen, um nicht weiter Wasser auf die Mühlen rechter Kräfte zu leiten.

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Fotos: Karin Desmarowitz/Christiane Schneider