Fall Tayler: „Kinder- und Jugendhilfe endlich auf den Prüfstand stellen!“

Wer hat im Fall des kleinen Tayler versagt? Statt einzelne Mitarbeiter zu feuern, wäre eine Überprüfung des Kinder- und Jugendhilfesystems angebracht, findet Sabine Boeddinghaus, Vorsitzende der Linksfraktion. Im Interview erklärt sie, wo die Schwachstellen liegen – und warum DIE LINKE für die Aufklärung des Falls eine Enquête-Kommission fordert.

 

Die Namen wurden zu Mahnmalen: Lara-Mia, Chantal, Yagmur. Mit Tayler ist nun wieder ein Kind in Hamburg gewaltsam zu Tode gekommen, obwohl die Familie unter Aufsicht der Behörden stand. Frau Boeddinghaus, was läuft falsch in Hamburg?

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Boeddinghaus: Mit jedem beklagenswerten Tod eines Kindes, das in staatlicher Obhut war, wurden die Instrumente der Kontrolle und Dokumentation im Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) verstärkt. Die Folge: Den einzelnen MitarbeiterInnen bleibt immer weniger Zeit und Spielraum für den eigentlichen „Fall“, also für die Kinder und Familien, die sie betreuen. Obwohl das Personal erweitert wurde, müssen sich die MitarbeiterInnen um zu viele Kinder kümmern. Ein hoher Krankenstand und mangelnde Wertschätzung erschweren die Arbeit enorm. Regelwerke, Standardisierungen und Verwaltungsaufgaben degradieren die engagierten MitarbeiterInnen zu bürokratischen FallmanagerInnen. Die professionelle soziale Arbeit kommt dann erheblich zu kurz, die eigentliche Arbeit mit den Familien tritt in den Hintergrund.

Warum ist die Arbeit des ASD so wichtig – und warum ist sie so schwierig?

Boeddinghaus: Hamburg ist eine gespaltene Stadt. In vielen Stadtteilen gibt es verfestigte Armutsstrukturen. Vor allem im Hamburgern Osten und im Süden gibt es Stadtteile wie Billstedt oder Harburg Kern, in denen rund 50 Prozent der Kinder offiziell arm sind. Das sind erschreckende Zahlen. In Nienstedten dagegen gibt es praktisch gar keine von Armut betroffenen Kinder. Auf diese Zustände muss die Politik reagieren. Aber die Stadt hat in vielen Bereichen der sozialen Infrastruktur gekürzt – da, wo Hilfe am nötigsten wäre, wird sie abgezogen. Ein Beispiel sind die Kürzungen in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit. Senator Scheele hat diesen Schritt selber als Fehler bezeichnet, bevor er Hamburg verließ. Aus meiner Sicht müssen diese Kürzungen sofort zurückgenommen werden. Die soziale Infrastruktur muss endlich so ausgebaut werden, dass sie die Bedürfnisse der HamburgerInnen erfüllt.

Sozialsenatorin Melanie Leonard kommentierte den Prüfbericht der Jugendhilfeinspektion zum Fall Tayler damit, dass „grundlegend neue Regelungen unnötig“ seien, die Rahmenbedingungen im ASD seien gut.

Boeddinghaus: Das ist eine hilflose Schutzbehauptung. Das Kinder- und Jugendhilfesystem in Hamburg ist eben nicht grundsätzlich gut aufgestellt. Der Bericht kommt ja am Ende selber zur Erkenntnis, dass das Regelwerk unübersichtlich ist. Allerdings ist die Jugendhilfeinspektion (JI) kein neutrales Gremium zur Aufklärung, sondern ein weiteres Kontrollinstrument der Sozialbehörde. Das hat mir erst vor kurzem eine ASD-Leitung aus Altona in einem Brief bestätigt. Die JI genießt in den einzelnen Jugendämtern kein hohes Ansehen.

Und was halten Sie von dem Bericht selbst?

Boeddinghaus: Es ist erschreckend, wie der Bericht zum Tod des kleinen Tayler unhinterfragt von der Behörde, von SPD, Grünen, CDU und FDP und auch der medialen Öffentlichkeit quasi als Bibel adaptiert wird. Die mit dem „Fall“ betrauten MitarbeiterInnen werden darin einfach in ihrer Arbeit abgeurteilt und abqualifiziert, ohne dass sie die Gelegenheit erhielten, die Sachlage aus ihrer Sicht schildern zu können. Das Schlimmste und auch Fahrlässigste dabei ist aus meiner Sicht, dass der Bericht suggeriert, es käme kein Kind in staatlicher Obhut mehr zu Tode, wenn sich die MitarbeiterInnen im ASD nur akribisch an die ungezählten Vorschriften hielten und all die entsprechenden Formblätter fein säuberlich ausfüllten. Das ist perfide, damit ermöglicht es sich die Behörde, in jedem einzelnen Todesfall stets individuelle Schuldige zu suchen, statt sich endlich damit auseinanderzusetzen, was im System falsch läuft. Damit muss Schluss sein.

Bereits nach dem Tod der kleinen Yagmur forderte Die Linke eine Enquete-Kommission. Warum halten Sie eine solche Kommission für effizienter als einen Parlamentarischen Untersuchungsausschuss (PUA)?

Boeddinghaus: Die Erfahrung aus bisherigen PUAs ist, dass damit einzelne Personen, insbesondere die MitarbeiterInnen der Jugendämter, zur Rechenschaft gezogen werden sollen, das System aber grundsätzlich nicht in Frage gestellt wird. Dabei gibt es in der Hamburger Fachwelt schon lange Interesse, das Kinder- und Jugendhilfesystem neu zu bewerten und es dahingehend auf den Prüfstand zu stellen, ob die Arbeit zur Unterstützung der Familien und zur Wahrung der Rechte der Kinder- und Jugendlichen eigentlich noch der UN- Kinderrechtskonvention und §1 des SGB VIII entspricht. Die UN-Kinderrechtskonvention ist seit ihrer Ratifizierung in Deutschland geltendes Recht. Das muss in der sozialen Arbeit umgesetzt werden.

Gibt es weitere grundlegende Probleme in der Kinder- und Jugendhilfe?

Boeddinghaus: Oh ja, zum Beispiel die zunehmende Ökonomisierung der Sozialen Arbeit. In der Folge kommt es zu einer immer stärkeren Zergliederung der fachlichen Arbeit. Die Fachkräfte bezahlen mit dem Verlust von Fachlichkeit, es entstehen immer neue „Schnittstellen“ in der sozialen Arbeit – das hilft aber niemandem, im Gegenteil. Auch die Einführung des schulischen Ganztags und der Ausbau der Kitas verändert die Grundlagen der Arbeit in der Kinder- und Jugendhilfe. Nicht zuletzt erfordert die Integration der vielen Flüchtlingskinder und Jugendlichen ein neues inklusives Denken.

Eine Betreuerin des freien Trägers stellte einen Tag, bevor Tayler ins Krankenhaus kam, blaue Flecken fest. Wäre es besser, wenn die konkrete Arbeit in Familien nicht an freie Träger ausgelagert würde?

Boeddinghaus: Die entscheidende Frage ist nicht, ob die Hilfe direkt vom ASD oder einem freien Träger kommt, sondern in welcher Qualität sie für die Kinder und ihre Familien geleistet wird. Dafür muss die soziale Infrastruktur so ausgebaut werden, dass Hilfe schnell erfolgt und nicht auf nachgelagerte Hilfesysteme verschoben wird. Sonst muss da mit sehr viel Aufwand repariert werden, was alles schon schief gelaufen ist. Diese Hilfen sind dann natürlich auch extrem teuer. Wie so oft gilt: Das, was wir heute an der Arbeit mit unseren Kindern und Jugendlichen einsparen, kommt uns später um ein Vielfaches teurer zu stehen.