Unterdrückung in der Türkei: Hamburg muss Zeichen setzen!
Rede von Sabine Boeddinghaus, Vorsitzende der Fraktion DIE LINKE, in der Hamburgischen Bürgerschaft am 9. November 2016:
Vor wenigen Tagen wandte sich die seit mehr als zwei Monaten inhaftierte Schriftstellerin Asli Erdogan mit einem Hilferuf aus dem Gefängnis an die europäische Öffentlichkeit: „Jede Meinung, die auch nur ein bisschen von der der Herrschenden abweicht, wird gewaltsam unterdrückt. Die Situation ist drastisch und extrem besorgniserregend. Ich bin überzeugt, dass ein totalitäres Regime in der Türkei Auswirkungen auf ganz Europa haben wird. Europa unterschätzt die Gefahren des totalen Verlusts der Demokratie in der Türkei.“ Europa müsse Verantwortung übernehmen und sich für Demokratie, Menschenrechte und freie Meinungsäußerung einsetzen.
37.000 Menschen sind unter dem Ausnahmezustand festgenommen, über 100.000 Staatsbedienstete entlassen und 160 Medien verboten worden. Mindestens 28 demokratisch gewählte Bürgermeisterinnen und Bürgermeister in kurdischen Städten wurden seit September abgesetzt, zum Teil verhaftet. Pressefreiheit, Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit – unverzichtbare Grund- und Menschenrechte – gelten nicht mehr.
Angriffe auf die Zivilgesellschaft
Die Gefängnisse sind überfüllt, die Notstandsdekrete der Regierung, darunter die Möglichkeit, Menschen bis zu 30 Tagen in Polizeigewahrsam zu halten, fordern Misshandlungen und Folter geradezu heraus. Und Folter findet statt. Erdogan will die Todesstrafe wiedereinführen.
Die Zivilgesellschaft, vor allem in den kurdischen Gebieten, ist massiven Angriffen ausgesetzt. Armee und Polizei haben ganze Stadtteile dem Erdboden gleichgemacht. Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen wurden in den letzten eineinhalb Jahren 1.600 Zivilistinnen und Zivilisten getötet.
Mit der Verhaftung der beiden Parteivorsitzenden der zweitgrößten Oppositionspartei HDP sowie weiterer 9 HDP-Abgeordneter hat Erdogan die Situation weiter eskaliert.
Demokratische Opposition wird zerschlagen. Für die kurdische Zivilgesellschaft, andere diskriminierte Minderheiten und die demokratische Linke in der Türkei wird der parlamentarische Weg zur Lösung der Konflikte somit versperrt.
Mit der Aufhebung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit begibt sich die Türkei auf den Weg in die Diktatur.
Hamburg ist direkt betroffen
Asli Erdogan hat Recht: Die Beseitigung der Demokratie in der Türkei hat Auswirkungen auf Europa, auch auf Hamburg. Das kann angesichts der vielfältigen wirtschaftlichen, kulturellen, wissenschaftlichen und politischen Verflechtungen zwischen der Türkei und Europa auch nicht anders sein, und schon gar nicht angesichts der jahrzehntelangen Migration.
Fast 100.000 Hamburgerinnen und Hamburger haben ihre Wurzeln in der Türkei und zumeist noch viele soziale, kulturelle und oft auch politische Beziehungen dorthin. Unter diesen 100.000 sind viele Kurdinnen und Kurden, Alevitinnen und Aleviten oder andere Angehörige von in der Türkei unterdrückten Minderheiten.
Vor diesem Hintergrund begrüßen wir die Solidaritätserklärung mit den Abgeordneten der HDP, den Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern, Journalistinnen und Journalisten.
Internationale Solidarität wirkt!
Gerade erst haben wir gesehen, dass Solidarität und eine kritische Öffentlichkeit Wirkung entfalten können. Deniz Naki, der ehemalige Spieler des FC St. Pauli, wurde gestern freigesprochen. Das war nicht unbedingt zu erwarten. Die Solidarität, die er aus Hamburg erfahren hat, von seinem ehemaligen Club, von vielen anderen Menschen, darunter auch unsere Co-Fraktionsvorsitzenden Cansu Özdemir, die zum Prozess geflogen war, hat zum guten Ausgang sicher beigetragen.
Wir hoffen, dass die Solidaritätserklärung die breite Unterstützung der demokratischen Kräfte in dieser Bürgerschaft findet und damit ein starkes und öffentlich wirksames Zeichen setzt. Wir werden uns weiter dafür einsetzen, dass den wichtigen Worten noch wichtigere Taten folgen.
Sicher sind in erster Linie die Bundesregierung und die EU-Ebene gefragt, die eine Menge Druckmittel in der Hand haben und diese auch endlich entschlossen und entschieden nutzen müssen.
Unsere Stadt kann helfen
Aber auch Hamburg kann handeln, kann Schritte praktischer Solidarität ergreifen. Hamburg kann zum Beispiel versuchen, mit Kommunen, deren demokratisch gewählte Bürgermeisterinnen oder Bürgermeister willkürlich abgesetzt wurden, partnerschaftliche Projekte zum Schutz der Demokratie zu entwickeln. Und ein ganz starkes Zeichen wäre es, wenn der Bürgermeister Olaf Scholz eine Patenschaft für die festgenommene Bürgermeisterin von Diyarbakir, Gültan Kisanak, übernähme.
In diesem Sinne werden wir die Diskussion mit den anderen demokratischen Bürgerschaftsfraktionen weiterhin suchen und führen.