Schlafentzug, Schikane, Notdurft nur unter Aufsicht: Was wirklich in der G20-Gesa geschah
Der Sonderauschuss G20 hat zum Thema Gefangenensammelstelle Neuland diskutiert – Gedanken von Martin Dolzer, justizpolitischer Sprecher der Linksfraktion
In der Sitzung des G20-Sonderausschusses am 21. Juni wurde deutlich, dass es in der Gefangenensammelstelle Neuland bei 66 Prozent der Ingewahrsamnahmen zu rechtswidrigen Durchsuchungen der Betroffenen bei vollständigem Entkleiden gekommen ist. Das ist ein massiver, nicht hinnehmbarer Eingriff in die Persönlichkeitsrechte. Die Verantwortlichen aus Behörden und Senat bekundeten, dass sich eine solche Praxis nicht wiederholen dürfe.
In Bezug auf weitere gravierende Eingriffe in Grundrechte zeigte der Senat allerdings kaum Einsicht. Dass die Richtervorführung mit Zeiten von der freiheitsentziehenden Maßnahme bis zur Vorführung vor die/den Haftrichter_in mit durchschnittlich 15-40 Stunden nicht unverzüglich stattfand, wurde ebensowenig als eindeutig rechtswidrig eingestanden, wie die Tatsache, dass eine Vielzahl der in Gewahrsam Genommenen durch 24 Stunden Licht und ca. jede Stunde stattfindende Weckungen zur Lebendkontrolle unter Schlafentzug litt. Eine Richtervorführung bei Ingewahrsamnahmen muss eigentlich unverzüglich, dass heißt ohne jegliche vermeidbare Verzögerung, geschehen. Das ist in der Regel, je nach Situation, zwischen höchstens drei und dreizehn Stunden. Schlafentzug gilt zumindest als Erniedrigende Behandlung bzw. „weiße Folter“ und ist gemäß der Europäischen Menschenrechtskonvention, Artikel 3 verboten.
Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit diesen und weiteren Vorwürfen, wie zum Beispiel der Einschränkung von Anwält_innen beim Zugang zu Mandant_innen oder gezielten gerichtskundigen Beleidigungen von Ingewahrsamgenommenen durch Beamte (wie: „wir haben Euch alle gefickt“; „Euch hätte man mal richtig zusammenschlagen müssen“; „Du warst ja sowieso schon nass, wir sind nicht nass“ …), die in einer im Verlauf der Sitzung des Ausschusses verlesenen Expertise des Rechtsanwalts Sven Adam skizziert wurden, ist dringend notwendig. Adam zitierte aus einer Pressemitteilung des Anwaltlichen Notdienstes des RAV, in der unter Anderem beschrieben wurde, dass Mandant_innen keine Hygienartikel zur Verfügung gestellt wurden und eine junge Frau einen Tampon lediglich vor den Augen von Beamtinnen einführen konnte. Zudem sei das Recht auf unverzügliche, angemessene medizinische Versorgung mehrfach außer Kraft gesetzt worden. Die Behördenvertreter_innen widersprachen sämtlichen Vorwürfen. Hier gilt ähnlich wie in der Haft in Justizvollzugsanstalten, dass rechtswidriges Verhalten gegenüber Ingewahrsam oder in Haft befindlichen Menschen immer schwer zu beweisen ist, da die Betroffenen sich meist in isolierten Situationen ohne Zeug_innen befinden.
Gerichte stellen Rechtwidrigkeit der Maßnahmen in der Gesa fest
Zur Behandlung der Betroffenen in der Gefangenensammelstelle der Polizei hat das Landgericht Hamburg allerdings mittlerweile in etlichen Fällen am 25. Mai festgestellt, dass Durchsuchungen bei vollständigem Entkleiden ohne konkreten Anlass rechtswidrig gewesen seien und die Betroffenen nicht hätten gezwungen werden dürfen, ihre Notdurft unter Aufsicht von Polizeikräften zu verrichten. Zudem kritisiert das Gericht als rechtswidrig, dass die Richtervorführung nicht unverzüglich sondern nach den o.g. 15 -40 Stunden geschehen sei.
Das Verwaltungsgericht Hamburg hat darüber hinaus am 05. Juni entschieden, dass Polizeibeamte während des G20-Gipfels rechtswidrig gehandelt haben, als sie am 8. Juli 2017 eine Gruppe von 15 Italiener_innen in Gewahrsam genommen und ohne richterlichen Beschluss teils bis zum nächsten Tag dort festgehalten hatten. Ihre Ingewahrsamnahme sei ein Eingriff in die Versammlungsfreiheit, durch die Ihre Anwesenheit geschützt gewesen sei. Auch die Italiener_innen hatten sich unter Anderem vollkommen ausziehen müssen und wurden in Zellen untergebracht, in denen die ganze Nacht das Licht brannte. Unter den in Gewahrsam Genommenen befand sich auch die Abgeordnete des Europaparlaments Eleonora Forenza. Deren Ingewahrsamnahme wurde auf der Sitzung des Sonderauschusses damit begründet, dass sie bei der Ingewahrsamnahme der italienischen Gruppe während der Großdemonstration am 08. Juli 2017 weitere Demonstrierende aufgefordert hatte, sich mit den Bettroffenen zu solidarisieren. Bei Gefahrenabwehr würde auch die Immunität nicht wirksam, die ihr aufgrund ihres Status hätte gewährt werden müssen. Ihre Aufforderung hätte eine Gefahr dargestellt, die abgewehrt hätte werden müssen. In anbetracht der Urteilsbegründung des Richters, der im Fall der Italiener_innen davon sprach, dass alle Maßnahmen der Polizei bis auf die Freilassung der Gruppe grob rechtswidrig waren, ist das eine kaum nachvollziehbare Begründung.
Rechtsanwält_innen müssen als Organe der Rechtspflege anerkannt werden
Es ist ebenfalls wichtig, dass Rechtsanwält_innen als unabhängige Organe der Rechtspflege betrachtet und auch seitens regierungsverantwortlicher Politiker_innen sowie den Behörden als solche anerkannt werden. Weit wichtiger als einzelne verbale Verfehlungen von Beamt_innen negativ zu sanktionieren, wie zum Beispiel die in den Akten des Sondderausschusses zu findende Bezeichnung „Zeckenanwälte“, ist zu verstehen, dass solche Äußerungen in einem gesellschaftlichen Klima der Polarisierung und Spaltung stattfanden. Dazu hat neben der Dämonisierung von Teilen des Gipfel-Protestes auch beigetragen, dass die Versammlungsbehörde in einer Gefahrenprognose in einem Verfahren vor Gericht die freie Advokatur der Anwält_innen des freien Republikanischen Anwält_innenverein (RAV) in Frage gestellt hatte. Kritische Jurastudent_innen hatten gegen die Allgemeinverfügung der Versammlungsbehörde geklagt, in der weite Teile der Hamburger Innenstadt zur Versammlungsfreien Zone erklärt wurden. In einer Stellungnahme hatte die Versammlungsbehörde vor Gericht ausgeführt, dass aufgrund der Vernetzung der benannten Studierendengruppen mit dem RAV zu prognostizieren sei, dass auch bei Spontanversammlungen zum einen damit zu rechnen ist, dass nicht nur eine geringe Teilnehmerzahl an solchen Versammlungen teilnehmen wird und zum anderen das Abhalten solcher Spontanversammlungen unter Angabe des Versammlungsortes auch in die „linke bis linksextremistische Szene transportiert
werden würde“. Dieses Vorgehen hatte den Protest einer Vielzahl von Anwaltskammern und Anwaltsvereinigungen auf den Plan gerufen. Die Wahl des anwaltlichen Beistands darf nicht zum Gegenstand polizeilicher Bewertung und Beurteilung werden, denn diese ist ein Grundpfeiler eines jeden Rechtsstaates.
Polizeiliche Tatzeug_innen wurden gleichzeitig vernommen
In der Sitzung des Sonderauschusses gestanden die Behördenvertreter_innen ein, dass mehrere polizeiliche Tatzeugen, in dem genannten Fall Tatbeobachter, von Kriminalbeamt_innen in der Gefangenensammelstelle zusammen und nicht einzeln zum gleichen Tatbestand vernommen wurden. Das ist ein absolutes No-Go und im Gerichtsverfahren ein Verfahrenshindernis. Diese gleichzeitigen Verhöre sind auch in mehreren Prozessen öffentlich geworden. Das Ausmaß dieser Vorgehensweise wird die Linksfraktion in einer Schriftlichen Kleinen Anfrage hinterfragen.
Fazit
Die Sitzung des Sonderauschusses G20 zum Thema Gefangensammelstelle Neuland hat deutlich gezeigt, dass die Einrichtung einer GeSa damit verbunden ist, dass es zu einer hohen Anzahl an Rechtsverstößen und empfindlichen Eingriffen in das Persönlichkeitsrecht kommt.
Konflikte können nur durch Dialog und respektvollen Umgang miteinander, den Ausbau von Demokratie, die verbindliche Einhaltung der Menschenrechte und des Völkerrechts sowie durch die Entwicklung von gezielten Strategien zur Überwindung der gesellschaftlich vorhandene Feindbilder überwunden werden. Die Treffen der Regierungen der sogenannten G20-Staaten stehen aber für das genaue Gegenteil. Als faktische informelle Gegenstruktur zu den Vereinten Nationen stehen sie für Krieg, asymmetrische Handelsbeziehungen und strukturelle Gewalt. In diesem Rahmen haben auch Polizei und Justiz während des G20-Gipfels unter Anderem in der Gefangenensammelstelle Neuland agiert. Wenn der Sonderausschuss sein selbst formuliertes Ziel ernst nimmt, nämlich, dass sich die Vorkommnisse und gewalttätigen Ausschreitungen während des G20 sich nicht wiederholen dürfen, sollte er zu dem Schluss kommen, dass die G20 aufgelöst und die Vereinten Nationen demokratisiert und gestärkt werden müssen. Anstatt Sondereinrichtungen wie eine Gefangenensammelstelle zu konstruieren und die Polizei weiter aufzurüsten und zu militarisieren, wäre das ein ganzheitlicher Ansatz. Ein Problem sollte nicht durch Unterdrückung eines seiner Symptome, sondern durch die Analyse und die Überwindung seiner Ursache gelöst werden.
Foto: „#G20 Dienstag: Anti-G20 in Hamburg“ (CC BY-NC 2.0) by tim.lueddemann